Einsetzungsbeschluss und Untersuchungsauftrag
Der Deutsche Bundestag hat in seiner 181. Sitzung am 4. Juli 2024 folgenden Beschluss gefasst (vgl. BT-Plenarprotokoll 20/ 181, S. 23487, BT-Drucksachen 20/11731, 20/12142):
A. Der Deutsche Bundestag stellt fest:
Der russische Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 und die Folgen dieses Kriegs führten zu einer Energiekrise. Der Bundeskanzler sprach am 27. Februar 2022 in seiner Rede im Deutschen Bundestag zur Situation nach dem russischen Angriff auf die Ukraine von einer „Zeitenwende“ (vgl. https://www.bundesregierung.de/breg-de/suche/regierungserklaerung-von-bundeskanzler-olaf-scholz-am-27-februar-2022-2008356). Auch infolge der hohen Energiepreise, die ihren Höhepunkt im Spätsommer 2022 erreichten, erlebte Deutschland mit über sieben Prozent die höchste Inflation seit 40 Jahren. Die Bundesregierung erkannte, dass „der völkerrechtswidrige Angriff auf die Ukraine die angespannte Lage auf den Energiemärkten verschärft hat“.
Nach damaligem Stand des Gesetzes über die friedliche Verwendung der Kernenergie und den Schutz gegen ihre Gefahren (Atomgesetz/AtG) sollten die drei letzten in Deutschland betriebenen Kernkraftwerke Isar 2, Neckarwestheim II und Emsland zum 31. Dezember 2022 den Leistungsbetrieb beenden. Bundesminister Dr. Robert Habeck sagte am 27. Februar 2022 in der ARD-Sendung „Bericht aus Berlin“ eine ergebnisoffene Prüfung zu einem möglichen Weiterbetrieb der Kernkraft in Deutschland zu (vgl. https://www.tagesschau.de/multimedia/video/video-994941.html).
In einem Vermerk der Fachebene des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz (BMUV) vom 1. März 2022 hieß es: „Nachfolgend werden hinsichtlich des Betriebs von Kernkraftwerken in Deutschland, über das Jahresende 2022 hinaus, aus technischer Sicht drei Szenarien diskutiert, die mit der Aufrechterhaltung der Nuklearsicherheit vereinbar wären.“ Darin zeigte die Fachebene auf, unter welchen Voraussetzungen ein kurzzeitiger oder ein langzeitiger Weiterbetrieb möglich und mit der nuklearen Sicherheit verträglich wäre.
In einem darauffolgenden Vermerk vom 3. März 2022 kam der Leiter der Abteilung Nukleare Sicherheit und Strahlenschutz im BMUV zu dem Ergebnis, dass die Verlängerung der Laufzeit der drei noch laufenden Kernkraftwerke über den gesetzlich festgelegten 31. Dezember 2022 hinaus sicherheitstechnisch nicht vertretbar wäre.
Mit Datum vom 3. März 2022 verfasste das betreffende Fachreferat im Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) einen Vermerk zur Frage der Versorgungssicherheit im bevorstehenden Winter, zu den Gaseinspar- und Preiseffekten bei einem möglichen Weiterbetrieb der Kernkraft sowie zu einer möglichen Laufzeitverlängerung.
Ohne die Beteiligung der technischen Bereichsvorstände wurden die Vorsitzenden der Kernkraftwerksbetreiber in einer Telefonkonferenz am 5. März 2022 informiert und aufgefordert, innerhalb einer sehr kurzen Frist von nicht einmal 24 Stunden das Protokoll dieser Schalte freizugeben. Insbesondere der Kernkraftwerksbetreiber PreussenElektra hat im Nachgang öffentlich klargestellt, dass sie stets offen für eine längere Nutzung waren (vgl. https://regionalheute.de/eons-atomchef-offen-fuer-weitere-laufzeit-verlaengerung-1671601145/).
Mit Datum vom 7. März 2022 veröffentlichten das BMWK und das BMUV einen gemeinsamen „Prüfvermerk“ und eine dazugehörige FAQ-Liste. Darin lehnten die beiden Ressorts einen Weiterbetrieb ab, u. a. aus Gründen der nuklearen Sicherheit.
Aus der bisherigen Aktenlage ist nicht erkennbar, dass zu den vorgenannten Fragen ein strukturierter Erörterungs- und Meinungsbildungsprozess mit den Ländern, der bei der im föderalen Gefüge eng verzahnten Wahrnehmung der Atomaufsicht unabdingbar ist, stattfand. Es ist ferner nicht klar, zu welcher Zeit, in welchem Stadium und in welchem Umfang die Reaktorsicherheitskommission (RSK) und die Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) eingebunden waren. Ein Austausch mit anderen EU-Mitgliedstaaten und Nachbarstaaten sowie Institutionen der EU ist offensichtlich ebenfalls nicht erfolgt.
Am 23. Juni 2022 rief Bundesminister Dr. Robert Habeck die Alarmstufe des Notfallplans Gas aus. Im ersten Quartal des Jahres 2022 lag der Gasanteil im deutschen Strommix bei rund 13 Prozent, der Anteil der Kernenergie bei sechs Prozent.
Mitte Juli 2022 gab das BMWK einen zweiten Stresstest zur Prüfung des Stromsystems bei den Übertragungsnetzbetreibern in Auftrag.
Bereits ab Ende August 2022 begannen regierungsinterne Beratungen über die Ausgestaltung einer „AKW-Einsatzreserve“. Das Konzept bestand daraus, mindestens zwei von drei noch am Netz befindlichen Kernkraftwerke vorzuhalten und spätestens vor Jahresende 2022 zu entscheiden, ob diese über den Jahreswechsel hinaus verlängert werden. Das in Niedersachsen liegende Kernkraftwerk Emsland sollte allerdings außen vor bleiben. Am 5. September 2022 erschienen die Ergebnisse des zweiten Stresstests (vgl. https://www.bmwk.de/Redaktion/DE/Pressemitteilungen/2022/09/20220905-stresstest-zum-stromsystem.html). In der Folge intensivierten sich die Beratungen zwischen Bundesregierung und Betreibern sowie den Übertragungsnetzbetreibern in Bezug auf eine „Einsatzreserve“. Mit diesen befasste sich auch der Ausschuss für Klimaschutz und Energie in seiner Sondersitzung am 7. September 2022 unter Anwesenheit von Bundesminister Dr. Robert Habeck. Ende September 2022 verkündete er öffentlich eine Einigung mit den Betreibern. Das Konzept erfuhr jedoch regierungsintern sowie von den Betreibern weiter erhebliche Kritik.
Mitte September 2022 mehrten sich Expertenstimmen, u. a. vom Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung sowie vom ifo Institut, dass der Weiterbetrieb der Kernkraftwerke einen Beitrag zur Verringerung der Strompreise leiste (vgl. https://www.ifo.de/pressemitteilung/20220914/laufzeitverlaengerungwuerdestrompreise-2023um4prozentverringern).
Mitte Oktober 2022 setzte der Bundeskanzler per Richtlinienkompetenz den Weiterbetrieb der Kernkraftwerke bis zum 15. April 2023 durch. Der „Prüfvermerk“ des BMWK/BMUV mit der Ablehnung des Weiterbetriebs blieb unverändert bestehen.
Mit Urteil vom 22. Januar 2024 unterlag das BMWK vor dem Verwaltungsgericht Berlin gegen einen Journalisten des Magazins Cicero und musste infolgedessen Unterlagen zu den vorstehenden Vorgängen freigeben. Am 25. April 2024 erschien unter der Überschrift „Wie die Grünen beim Atomausstieg getäuscht haben“ ein Artikel desselbigen Magazins, der im Wesentlichen auf Unterlagen aus dem BMWK und dem BMUV beruhte.
Auf Antrag der Fraktion der CDU/CSU wurden daraufhin für den 26. April 2024 Sondersitzungen der Bundestagsausschüsse für Klimaschutz und Energie sowie für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz einberufen. In der Sondersitzung erklärte Bundesminister Dr. Robert Habeck, dass er den Vermerk vom 3. März 2022 erstmalig am Vortag, also am 25. April 2024, gesehen habe und es sich um ein „Vorpapier“ handele. Bundesministerin Steffi Lemke gab zu Protokoll, dass sie bereits durch einen Vermerk vom 9. Februar 2022 von den hohen sicherheitstechnischen Hürden für einen Weiterbetrieb der Kernkraftwerke unterrichtet wurde.
Die bisherige Aktenlage lässt nicht den Schluss zu, dass die Bundesregierung den selbst gestellten Prüfauftrag ergebnisoffen und unvoreingenommen ausgeführt hat. Es bestanden bereits zum Zeitpunkt der Entscheidung erhebliche fachliche Zweifel an der Positionierung zu einem möglichen Weiterbetrieb der im Jahr 2022 noch am Netz befindlichen Kernkraftwerke. Es kann zum jetzigen Zeitpunkt nicht ausgeschlossen werden, dass – entgegen dem öffentlich formulierten Anspruch – fachliche Expertise politischen und parteipolitischen Vorgaben weichen musste. Insgesamt muss es als fraglich angesehen werden, ob das BMWK nationale und energiepolitische Interessen inmitten der Energiekrise über Parteipolitik gestellt und das BMUV seine Funktion im Rahmen der Atomaufsicht neutral und unabhängig wahrgenommen hat.
B. Der Deutsche Bundestag beschließt:
I. Einsetzung eines Untersuchungsausschusses
Es wird ein Untersuchungsausschuss gemäß Artikel 44 des Grundgesetzes eingesetzt.
Dem Untersuchungsausschuss sollen 11 ordentliche Mitglieder (SPD-Fraktion: 3 Mitglieder, CDU/CSU-Fraktion: 3 Mitglieder, Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: 2 Mitglieder, FDP-Fraktion: 2 Mitglieder, AfD-Fraktion: ein Mitglied) und eine entsprechende Anzahl von stellvertretenden Mitgliedern angehören.
II. Untersuchungsauftrag
Der Ausschuss soll sich ein umfassendes und detailliertes Gesamtbild verschaffen von den Entscheidungsprozessen in der Bundesregierung zur Anpassung der Energieversorgung Deutschlands, der die Energieversorgung von Bürgerinnen und Bürgern sowie Unternehmen betreffenden Regelsetzung, insbesondere der Gesetzgebung, und der Energiepolitik an die nach dem Ausbruch des Kriegs gegen die Ukraine fundamental veränderte Lage sowie von den in die Entscheidungsprozesse eingeflossenen Informationen, den die getroffenen Entscheidungen leitenden Überlegungen und Zielsetzungen und von der diesbezüglichen Kommunikation gegenüber Parlament und Öffentlichkeit. Der Untersuchungszeitraum beginnt am 24. Februar 2022 und endet mit dem Beschluss des Bundestages über die Einsetzung des 2. Untersuchungsausschusses.
III. Der Untersuchungsausschuss soll dazu insbesondere klären,
1. ob und gegebenenfalls welche Informationen über die Energieversorgung und ihre Entwicklung sowie die nukleare Sicherheit verfügbar waren und in die Entscheidungsprozesse in der Bundesregierung einbezogen wurden oder welche Informationen dazu bei möglicherweise sachgerechtem Vorgehen hätten verfügbar gemacht und einbezogen werden können und aus welchen Gründen dies gegebenenfalls geschah oder unterblieb;
2. ob und gegebenenfalls welche mit Fragen der Energieversorgung und der nuklearen Sicherheit befassten deutschen Behörden, Forschungseinrichtungen, Sachverständigenorganisationen, Expertengremien, Verbände oder Unternehmen mit einer oder mehreren Bundesbehörden in den Entscheidungsprozessen in Kontakt standen oder beteiligt wurden oder welche mit Fragen der Energieversorgung und der nuklearen Sicherheit befassten deutschen Behörden, Forschungseinrichtungen, Sachverständigenorganisationen, Expertengremien, Verbände oder Unternehmen bei möglicherweise sachgerechtem Vorgehen hätten kontaktiert oder beteiligt werden können und aus welchen Gründen dies gegebenenfalls geschah oder unterblieb;
3. ob und gegebenenfalls welche mit Fragen der Energieversorgung und der nuklearen Sicherheit befassten Stellen von Nachbarstaaten sowie europäischen oder internationalen Einrichtungen oder Organisationen von einer oder mehreren Bundesbehörden in den Entscheidungsprozessen kontaktiert oder beteiligt wurden oder welche mit Fragen der Energieversorgung und der nuklearen Sicherheit befassten europäischen oder internationalen Einrichtungen oder Organisationen bei möglicherweise sachgerechtem Vorgehen hätten kontaktiert oder beteiligt werden können und aus welchen Gründen dies gegebenenfalls geschah oder unterblieb;
4. ob der Bundestag und die Öffentlichkeit zu Ablauf, Grundlage und Ergebnis der Entscheidungsprozesse und zu den getroffenen Entscheidungen umfassend, zeitnah, sachgerecht und zutreffend informiert wurden;
5. ob und gegebenenfalls auf welcher Grundlage, die von Bundesminister Habeck mit Blick auf die seinerzeit nach Kriegsbeginn diskutierte, mögliche Verlängerung der Laufzeit der Kernkraftwerke der Öffentlichkeit am 27. Februar 2022 zugesagte „ergebnisoffene Prüfung“ bzw. die am 1. März 2022 angekündigte Prüfung, bei der es „keine Tabus“ gebe, stattgefunden hat.
IV. Der Ausschuss soll zudem prüfen, ob und in welchem tatsächlichen Umfang die Art und Weise der Aktenführung und Entscheidungsdokumentation in den beteiligten Ressorts und Bundesbehörden die verfassungsmäßig vorgesehene parlamentarische Kontrolle von exekutiven Entscheidungen ermöglicht oder erschwert und welche Änderungen oder Ergänzungen von bestehenden Vorschriften deshalb sachgerecht und geboten sind.