Beteiligung durch Bürgerräte in der repräsentativen Demokratie
Per Los ausgewählte Bürgerinnen und Bürger diskutieren politische Fragen. Standpunkte werden ausgetauscht, Lösungsvorschläge erarbeitet und Empfehlungen an die Politik formuliert. Und vor allem lernen die Teilnehmenden sogenannter Bürgerräte die komplexe politische Entscheidungsfindung kennen, ist Bundestagspräsidentin Bärbel Bas überzeugt.
Im Paul-Löbe-Haus hat sie an diesem Mittwoch, 23. November 2022, einen Vortrag der Veranstaltungsreihe „Forum W“ der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages mit dem Titel „Bürgerräte – Instrument der Bürgerbeteiligung in der repräsentativen Demokratie“ eröffnet. Es diskutierten Gisela Erler, von 2011 bis 2021 Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung in Baden-Württemberg, und Prof. Dr. Florian Meinel, Professor für Staatstheorie, Politische Wissenschaften und Vergleichendes Staatsrecht an der Universität Göttingen.
Bas: Bürgerräte können Demokratie beleben
Bundestagspräsidentin Bas sieht in Bürgerräten eine Möglichkeit, das Vertrauen in die Politik wieder zu stärken und die Demokratie zu beleben. Sie könnten „die Vielfalt des Meinungsspektrums besser abbilden und den Diskurs auf eine breitere Grundlage stellen“. Vor allem, wenn es gelinge, Menschen dafür zu gewinnen, die sich von der Politik abgewandt hätten.
Wie Bas sagte, arbeitet im Bundestag seit einigen Wochen ein Aufbaustab Bürgerräte mit dem Ziel, dieses Format langfristig zu etablieren. Dabei gebe es quer durch alle Fraktionen Befürworter wie Gegner. Letztere argumentierten unter anderem, Bürgerräte könnten zu einer Art Nebenparlament führen. Eine Sorge, die die Bundestagspräsidentin nicht teilt. Sie ist überzeugt: „Bürgerräte können die repräsentative Demokratie nicht ersetzen. Sie sind aber ein gutes Instrument, um die traditionellen Strukturen unserer Demokratie zu ergänzen.“
„Am Ende trifft das Parlament die Entscheidung“
Aus Sicht der Parlamentspräsidentin müssten dafür jedoch zwei Grundvoraussetzungen erfüllt werden: Bürgerräte müssten die Gesellschaft möglichst pluralistisch abbilden und es müssten die „richtigen“ Fragen gestellt werden. Es solle um konkrete und kontroverse Themen gehen, die die Menschen in ihrem Alltag beträfen, sagte Bas und nannte als Beispiel eine allgemeine, gemeinnützige Dienstpflicht.
Klar sei aber auch, betonte Bas, „am Ende trifft das Parlament die Entscheidung und übernimmt die Verantwortung für das politische Handeln“.
Erler: Bürgerrat führt zu „besseren Entscheidungen“
Das betonte auch Gisela Erler. Ein Bürgerrat sei lediglich beratend tätig. Seine Empfehlung gehe in den parlamentarischen Entscheidungsprozess ein, er träfe jedoch keine Entscheidung. „Meine Erfahrung ist, er ist eine Art Vorformulierung denkbarer Prozesse für Parlamentarier.“
Aus Sicht der früheren Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung kann das Format zu „besseren Entscheidungen“ führen. Am Ende eines gelungenen Bürgerrates stehe ein „konstruktiver, kluger Vorschlag“.
„Ich kenne kein Instrument, das breiter ist“
Eine weitere Stärke des Formats sieht Erler darin, dass die „Zufallsbürger“ lernten, wie komplex politische Debatten seien. Zwar könnten Bürgerräte nicht alle Probleme der Demokratie lösen. Das Vertrauen sei „angeknackst“, so Erler. Aber das Format könne den Bürgerinnen und Bürgern das Gefühl vermitteln, „die probieren, dass man uns einbindet“. Und auch umgekehrt könnten Verwaltungen durch das Format lernen, „besser zuzuhören“.
Auf den Einwand, Bürgerräte seien nicht repräsentativ, entgegnete sie: „Nein, das sind sie nicht. Aber ich kenne kein Instrument, das breiter ist.“ Wichtig für das Gelingen eines Bürgerrates sei neben der Auswahl der Fragen auch die Auswahl der Experten. Es müsse einen „fairen Input“ geben, bei dem auch die Gegenposition vertreten sei.
Keine Entlastung der „professionellen Politik“
Florian Meinel widmete sich in seinem Vortrag der Frage, inwiefern Bürgerräte zur Ausweitung demokratischer Partizipationsmöglichkeiten und zur Stabilisierung der repräsentativen Demokratie im Ganzen beitragen können.
Eine These, die der Jurist aufstellte, lautete: „Ob Bürgerräte die repräsentative Demokratie in Frage stellen, kommt entscheidend darauf an, was man von Ihnen erwartet.“ Die Vorstellung, Bürgerräte könnten die professionelle Politik entlasten – indem zentrale politische Grundsatzentscheidungen aus dem politischen Prozess herausverlagert und an Bürgerräte delegiert würden – nannte Meinel „nicht besonders plausibel“. Etwa, weil sie schlecht geeignet seien, eine Folgeverantwortung für eigene politische Entscheidungen zu übernehmen.
Statt Entlastungen zu bringen, bestehe im Gegenteil sogar die Gefahr, dass sich die Komplexität des politischen Prozesses durch Bürgerräte tendenziell eher erhöhe. „Weil der politische Prozess sozusagen einen weiteren und irgendwie auch relevanten Agendasetzer bekommt, mit dessen kaum steuerbaren Vorschlägen man sich dann irgendwie beschäftigen muss“, so Meinel. (irs/23.11.2022)