Sachverständige: Bürgerräte fördern Akzeptanz für politische Entscheidungen
Könnten vom Bundestag eingesetzte Bürgerräte oder Bürgerforen zu bestimmten Fragestellungen bald die Arbeit des Parlaments unterstützen, so wie es die Koalitionsfraktionen vereinbart haben? Wie sich der politische Entscheidungsprozess durch moderne demokratische Beteiligungsformen verbessern lässt, darüber informierten die Sachverständigen aus Wissenschaft und Praxis im öffentlichen Fachgespräch des Unterausschusses „Bürgerschaftliches Engagement“ am Mittwoch, 19. Oktober 2022.
Der „stillen Mehrheit“ eine Stimme geben
Bürgerräte oder Bürgerdialogforen, die es in immer mehr Kommunen gebe, „helfen Politik und Verwaltung zu erfahren, was die Menschen umtreibt“, so Barbara Bosch, Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung beim Land Baden-Württemberg. Sie „geben der stillen Mehrheit“ neben der lauten Präsenz von Lobbygruppen und den Überspitzungen der sozialen Medien „eine Stimme“. Damit Bürgerbeteiligung gelingt, gelte es allerdings ein paar Punkte zu beachten. Zunächst brauche es „Commitment von oben“, eine klare Haltung seitens der Politik, dass Bürgerbeteiligung gewünscht und unterstützt wird.
Das Ganze müsse dann in einem professionellen Verfahren ablaufen. Es beginne mit einer konkreten und präzisen Fragestellung. Dabei müsse es echte Entscheidungsoptionen geben. Es bringe nichts, Bürgerbeteiligungsverfahren als Alibi-Veranstaltung durchzuführen, wenn die politische Entscheidung bereits feststehe. Ein Bürgerrat müsse am besten „noch in der Phase des ersten Referentenentwurfs“ einberufen werden, und „nicht erst, wenn bereits der Bagger kommt“. Bürgerbeteiligung mache immer dann Sinn, wenn es darum gehe, kontroverse Entscheidungen und Entscheidungen von hoher Tragweite vorbereitend zu begleiten.
Transparenz über Verfahrensabläufe
Wichtig sei, die Einrichtung von Bürgerräten von vornherein als beratendes Gremium zu verorten, das den gewählten Mandatsträgern des Parlaments zuarbeite, die die Gesamtverantwortung trügen und am Ende die Entscheidung träfen. Bürgerräte seien keine Institutionen, die die Parlamente ersetzen könnten. Nicht verwechseln dürfe man die Bürgerforen auch mit der gesetzlich vorgeschriebenen Öffentlichkeitsbeteiligung zum Beispiel bei Bebauungsvorhaben.
Zu einem erfolgreichen Bürgerforum gehöre, Transparenz über die Verfahrensabläufe herzustellen und Zuständigkeiten klar zu verorten. Es brauche zudem eine neutrale sowie professionelle Moderation und schließlich müsse die Politik den beteiligten Bürgerinnen und Bürgern Rückmeldung geben, wie man ihr Votum bei der Entscheidung berücksichtigt habe. „Die Menschen wollen wissen, was mit ihrer Beteiligung passiert ist.“ In der Regel lasse sich eine Fragestellung in einem überschaubaren Zeitraum von drei Monaten bearbeiten, in dem vier bis sechs Sitzungen abzuhalten seien. Bürgerräte sollten nicht auf Dauer eingesetzt, sondern für jede Fragestellung neu berufen werden.
„Beteiligung führt zu mehr Respekt vor der Politik“
Mit einer Zufallsauswahl der Mitglieder ließen sich alle Milieus widerspiegeln. Dazu habe der Landtag von Baden-Württemberg für das „Gesetz über die dialogische Bürgerbeteiligung“ zunächst die melderechtlichen Voraussetzungen schaffen müssen. „Durch die Zufallsauswahl erreichen Sie auch jene, die nicht politisch organisiert sind.“ Mehrheitlich werde am Ende eine Empfehlung an die Politik abgegeben. Man habe damit mittlerweile durchweg positive Erfahrung gemacht und das neue Instrument der Bürgerräte in der Praxis auch wissenschaftlich evaluiert.
Die Zahl der Menschen, die mit der Demokratie unzufrieden sind, nehme ja ab, gab Bosch zu bedenken „Menschen, die bei Beteiligungsverfahren mitgemacht haben, sind zufriedener. Auch dann, wenn das Ergebnis nicht ihrer Präferenz entspricht.“ Sie könnten mitmachen, bekämen das Gefühl, gehört zu werden, und einen Eindruck von der Komplexität der Themen und ein Verständnis für Politik und Verwaltungshandeln. „Bürgerbeteiligung führt am Ende des Tages zu mehr Respekt der Bürger vor der Politik. Die Menschen wissen unser repräsentatives System zu schätzen.“
Der wichtigste Einwand gegen Bürgerbeteiligung, diese verzögere politische Abläufe nur unnötig, sei mittlerweile widerlegt. So hätten bei einer Untersuchung von 97 Bau- und Infrastrukturprojekten drei Viertel den Nutzen der dialogischen Bürgerbeteiligung hervorgehoben und erklärt, dass diese das Gesetzesvorhaben sogar beschleunigt habe, weil sie „methodisch sauber auf Knackpunkte zusteuert“ und so „schwierige Punkte erkannt werden“.
Bürgerräte als Unterstützung der Parlamentsarbeit
Dass die repräsentative Demokratie und neue Formen der Bürgerbeteiligung zusammenpassen, unterstrich Prof. Dr. Brigitte Geißel, Leiterin der Forschungsstelle Demokratische Innovationen an der Goethe-Universität Frankfurt am Main, und verwies auf unterschiedliche funktionierende Beispiele aus aller Welt. Bürgerräte könnten ein Spiegel der Gesellschaft sein. Zentral für ein Gelingen sei eine neutrale Moderation. Am Ende stehe eine Empfehlung an den Entscheidungsträger, die gewählten Volksvertreter. Wenn man die Bürgerbeteiligung richtig aufsetzte, ergebe sich ein „gutes Zusammenspiel zwischen Entscheidungsträgern und Bürgerräten“.
So setzte das belgische Parlament immer wieder Bürgerräte zu unterschiedlichen Themen ein. Nachdem ein Bürgerrat seine Arbeit beendet habe, müsse das Parlament eine Antwort geben, welche Empfehlung es präferiert hat. Bürgerräte seien eine Form der Unterstützung der Parlamentsarbeit, vergleichbar mit der Anhörung von Interessengruppen. Es komme damit eine Gruppe an Lobbyisten hinzu, eine Beratung aus Sicht der Bürger.
Höhere Akzeptanz für politische Entscheidungen
Es habe sich gezeigt, dass politische Entscheidungen, die unter der Mitarbeit von Bürgerräten zustande gekommen seien, bei den Menschen eine höhere Akzeptanz hätten. Wichtig sei, die Bürger nicht lediglich mit vermeintlich unwichtigen Fragen abzuspeisen. Außerdem dürften Bürgerräte nicht dazu missbraucht werden, nachträglich Akzeptanz für eine Entscheidung zu erheischen.
Bürgerräte dürften nicht als Parallelparlament missverstanden werden. Aber sie könnten dazu beitragen, Unzufriedenheit mit der parlamentarischen Repräsentation abzubauen. Viele Bürger sagten sich: Menschen wie ich kommen im Parlament gar nicht vor. Diese Menschen könne man über die Beteiligung an Bürgerräten politisch aktivieren.
Vielzahl an Beteiligungsformen
Neben dem Instrument der Bürgerräte gebe es eine Vielzahl an Beteiligungsformen, bereits existierende und neue, sagte Geißel, und erinnerte an Petitionen, Volksentscheide, Onlineverfahren über die Sozialen Medien oder einfach die Einladung von Bürgerinnen und Bürgern ins Rathaus. Man solle möglichst viele Verfahren davon nutzen.
Es gebe „nicht das eine optimale Verfahren. Je mehr Verfahren wir nutzen, desto mehr Menschen beziehen wir ein, desto eher kommen wir in die Situation, dass jeder sagt: Ja, es gibt ein Format, wo ich mich einbringen kann.“ Man bekomme dann möglicherweise drei verschiedene Vorschläge, was mit einem Krankenhaus passieren solle. Aber das sei eine gute Basis für die Politik, von der aus sie weiterdenken und einen fundierten Entscheidungsprozess einleiten könne.
Unterausschuss „Bürgerschaftliches Engagement“
Der Unterausschuss „Bürgerschaftliches Engagement“ ist ein Unterausschuss des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Es befasst sich mit aktuellen Gesetzesvorhaben, die bürgerschaftliches Engagement betreffen und arbeitet an der Verbesserung der Rahmenbedingungen für freiwilliges und unentgeltliches Engagement für die Gesellschaft. (ll/19.10.2022)