08.05.2025 | Parlament

Begrüßungsansprache von Bundestagspräsidentin Julia Klöckner zur Gedenkstunde am 8. Mai 2025

[Stenografischer Dienst]

Julia Klöckner, Präsidentin des Deutschen Bundestages: 

Guten Morgen! 
Sehr geehrter Herr Bundespräsident! 
Frau Büdenbender!
Herr Bundeskanzler! 
Frau Präsidentin des Bundesrates!
Herr Präsident des Bundesverfassungsgerichts!
Exzellenzen!
Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Berlin im Mai 1945: 
Der Tiergarten-Park verwüstet. 
Das Reichstagsgebäude verkohlt. 
Die Kuppel ausgebrannt. 
Viele Fenster zugemauert, um eine Erstürmung noch abzuwenden. 
Die Fassade von Einschüssen durchlöchert. 
Und genau hier an diesem Ort Tristesse. Ein Ende bahnte sich an.

Tagelang wurde hier gekämpft: in den oberen Stockwerken schon die Rotarmisten, im Keller noch die deutschen Soldaten.

Das Unheil, das dunkelste Kapitel unserer deutschen Geschichte, hatte nicht zuletzt mit der Notverordnung nach dem Reichstagsbrand 1933 seinen Anfang genommen. Und es endete auch hier. 
Wie kaum ein anderes Bild steht die Reichstagsruine für das Ende des Zweiten Weltkrieges. Und das Ende des nationalsozialistischen Terrors.

Der Zweite Weltkrieg war der brutalste Krieg in unserer Menschheitsgeschichte. Nahezu überall in Europa begingen die deutschen Besatzer Kriegsverbrechen. In Ost- und Mitteleuropa führten sie einen rassistischen Vernichtungskrieg, der auf die Auslöschung ganzer Völker zielte.

Schon kurz nach dem Überfall auf Polen 1939 verschleppten und ermordeten die deutschen Besatzer Zehntausende Lehrer, Priester, Ärzte - das Rückgrat der polnischen Gesellschaft. Viel zu oft ist dieses Leid, das Polen angetan wurde, unerwähnt geblieben.

Auch im heutigen Belarus wüteten die Besatzer. Dorfbewohner wurden in ihre Häuser gesperrt und mit Handgranaten beworfen. Sogar Kinder ließen sie bei lebendigem Leib verbrennen!

Auch in den Großstädten wütete der nationalsozialistische Terror. Leningrad sollte ausgehungert werden! Mehr als zweieinhalb Jahre lang schnitt die Wehrmacht die Menschen von jeder Versorgung ab. Es gab mehr als 1 Million Todesopfer! Und am Stadtrand türmten sich die Leichen der Verhungerten, der Erfrorenen, der Gefallenen.

Das ungeheuerliche Ausmaß der deutschen Verbrechen ist bis heute nicht allen bewusst. Oder schlimmer noch: Viele wollen sich damit gar nicht mehr beschäftigen. 
Dieser Tendenz entgegenzuwirken - auch dazu dient das Gedenken am 8. Mai.

Zuallererst bedeutete das Frühjahr 1945 eine Befreiung für die Menschen, die unter dem NS-Terror am meisten litten: die Häftlinge in den Konzentrationslagern.

Jährlich am 27. Januar gedenken wir aller Opfer des Nationalsozialismus. Alleine aber die Erinnerung an den Holocaust schützt nicht vor neuem Antisemitismus. Antisemitismus hat viele Gesichter, auch viele Narrative. Während wir noch das „Nie wieder“ beschwören, passiert das „Wieder“ schon. Jetzt! 
Auf unseren Straßen. 
Im Netz. 
Und sogar an Universitäten! 
Wer zeitlich nach hinten erinnert, der muss auch nach vorne übersetzen - auf heutiges Handeln!

Meine Damen und Herren, Deutschland hatte diesen Krieg geplant, entfacht, geführt. Und er kehrte mit zerstörerischer Kraft zurück zu seinen Verursachern.

Millionen Deutsche irrten 1945 auf der Flucht umher. Ihr Hab und Gut war oft auf einen Bollerwagen geschrumpft. Er wurde zum Sinnbild des Schicksals vieler Vertriebener.

Menschen hausten in Trümmern und Baracken. Sie versteckten sich in den letzten Kriegswochen in den Kellern vor Bomben und - je nach Region - heranrückenden Truppen.

Insbesondere die Frauen, die Mädchen. Sie sind häufig die übersehenen Opfer eines jeden Krieges.

„Den vielleicht größten Teil dessen, was den Menschen aufgeladen war, haben die Frauen der Völker getragen. Ihr Leiden, ihre Entsagung und ihre stille Kraft vergißt die Weltgeschichte nur allzu leicht.“ So Bundespräsident Richard von Weizsäcker in seiner berühmten Rede am 8. Mai, vor 40 Jahren.

Natürlich waren Frauen im Zweiten Weltkrieg nicht frei von Schuld. Aber gerade Frauen und Mädchen mussten viel Leid ertragen, sexuelle Übergriffe, in und auch nach dem Krieg.

Meine Damen und Herren, wir wollen nicht vergessen. Denn viele Kinder von betroffenen Frauen haben auch nicht vergessen. Ich darf Ihnen aus einem aktuellen Schreiben, das eine heute 82 Jahre alte Tochter an den Deutschen Bundestag gerichtet hat, vorlesen:

„Als Augenzeugin des 2. Weltkriegs und Zeugin der Vergewaltigung meiner Mutter an der Grenze Tschechien/Sachsen im Sommer 1945 bei den wilden Vertreibungen möchte ich dringend darum bitten, dass endlich dieses Jahr zum 80. Gedenken an den 2. Weltkrieg und seine Folgen der Frauen gedacht wird, die Opfer von sexualisierter Kriegsgewalt wurden und bis heute im Rahmen kriegerischer Konflikte Opfer von Gewalt werden, weil sie Frauen sind. […]“
Ihre Worte haben mich sehr bewegt. Danke, liebe Frau Schon, dass Sie uns geschrieben haben. Danke, dass Sie meiner Einladung gefolgt sind. Ich darf Sie heute auf dieser Tribüne begrüßen.
(Beifall)
Danke für Ihr Schreiben, für Ihr Kommen!

Sie fragten, wann werde endlich offiziell der Frauen gedacht, die damals Opfer sexualisierter Kriegsgewalt wurden und bis heute werden? 
Liebe Frau Schon, die Antwort ist: heute.

Das Leid von Frauen wurde in der deutschen Nachkriegsgesellschaft einfach verdrängt. Kaum Möglichkeiten gab es für die Betroffenen, über das Erlebte zu sprechen: Die Scham verlängerte ihr Leid - wie viele sind daran zerbrochen?

Es ist Zeit, diesen Frauen in unserem Gedenken auch Raum zu geben, ihr Leid anzuerkennen - und die unglaubliche Kraft, mit der diese Frauen ums Überleben kämpften und entscheidend zum Wiederaufbau beitrugen.

Monika Hauser, Gründerin einer Frauenrechtsorganisation, fasst es zusammen mit den Worten: „Die Männer haben ihre Frauen nicht gefragt: ‚Was ist dir denn im Krieg passiert?‘, damit die Frauen nicht fragen: ‚Und was hast du dort getan?‘“

Wie haben sich diese Frauen, diese Männer im Mai 1945 gefühlt? Besiegt, erschüttert, verzweifelt, viele auch erleichtert. Aber befreit - fühlten sich im besetzten und bald auch geteilten Deutschland nur wenige.

In der DDR-Propaganda wurde der 8. Mai zwar von Anfang an als „Tag der Befreiung“ gefeiert, aber gleichzeitig zur Rechtfertigung neuer Unterdrückung missbraucht.

Erst nach einem spannungsreichen Prozess der Aufarbeitung in Familien, in der Gesellschaft konnten wir in Deutschland auch für uns in der Breite anerkennen: Die militärische Niederlage, sie war tatsächlich auch eine Befreiung.

Noch heute sind Erinnerungen an das Kriegsende so wichtig, gerade auch in unseren regionalen Zeitungen. Ich habe zum Beispiel im „Oeffentlichen Anzeiger“ der „Rhein-Zeitung“ in den vergangenen Wochen so eindrückliche Erinnerungen gelesen, die von den Leserinnen und Lesern gesammelt worden sind. Ein 98-jähriger Leser schrieb von der Gleichzeitigkeit aller Gefühle nach der Befreiung, der großen Beklommenheit, dem Glücksgefühl und der großen Dankbarkeit darüber, damals als junger Mann überhaupt den Schrecken des Krieges entkommen zu sein.

Solche Geschichten aus den Gemeinden vor Ort, aus ganz Deutschland, der eigenen Stadt helfen, die Zeit der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft besser einzuordnen.

Der 8. Mai hatte unserer Neuorientierung hin zur Demokratie eine ganz besondere Bedeutung gegeben, einer Demokratie, in die sich heute alle einbringen können.

Wer hätte sich 1945 vorstellen können, dass hier im Reichstagsgebäude jemals wieder ein frei gewähltes Parlament tagen würde?

Was für eine unwahrscheinliche Wendung der Geschichte! Das Reichstagsgebäude ist ein gutes Gedächtnis, liebe Kolleginnen und Kollegen.

Viele Soldaten haben vor 80 Jahren ihre Heimatorte an die Wände geschrieben. In kyrillischen Buchstaben steht dort etwa „Leningrad“ oder „Kursk“, aber eben auch „Jerewan“, „Baku“, „Kyjiw“ und „Donbass“.

Die Rotarmisten kamen nicht nur aus Russland. Sie kamen aus den vielen verschiedenen Republiken der Sowjetunion, auch aus der Ukraine.

Meine Damen und Herren, wir werden morgen in Moskau wieder Siegesparaden sehen, die im Namen der Befreier von damals den Krieg gegen die Ukraine heute rechtfertigen wollen. Was für ein Missbrauch der Geschichte!
(Beifall)
Butscha, Irpin, Mariupol: Und wieder werden Mädchen und Frauen zu Opfern sexualisierter Gewalt, eingesetzt als Kriegswaffe.

Meine Damen und Herren, heute beschäftigt viele Bürgerinnen und Bürger in Deutschland die Frage: Kann der Krieg wieder zu uns kommen? 
Lange haben wir uns den Frieden und auch uns als unantastbar vorgestellt. 
Jetzt müssen wir wieder umdenken. Um Frieden und Freiheit zu bewahren, müssen wir auch in der Lage sein, uns militärisch zu verteidigen.

Am 80. Jahrestag des Kriegsendes geht es ums Erinnern - und gleichzeitig auch um unser aller Auftrag: Wer befreit wurde, der ist auch verpflichtet, zu verteidigen: die Freiheit.
(Beifall)
Das ist der Auftrag des 8. Mai.
Herzlichen Dank.
(Beifall)
Und nun freue ich mich sehr, dass sie unserer Einladung gefolgt sind: drei junge Menschen. Sie lesen kurze Texte von Zeitzeugen vor. Sie werden vorgetragen von jungen Menschen, die sich beim Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge engagieren - ehrenamtlich. Ich danke dafür sehr herzlich Tankred Suckau, Sophia Wegener und Carl Vitek. Schön, dass Sie da sind. Schön, dass Sie sich so engagieren. Willkommen!
(Beifall)