Parlament

Karlsruhe sagt Ja zur Zweit­stimmendeckung aber mit Grundmandatsklausel

Richterinnen und Richter in roten Roben verkünden stehend ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts vor Zuhörern.

Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts bei der Urteilsverkündung am 30. Juli 2024 (© picture alliance/dpa | Uli Deck)

Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass das mit der Wahlrechtsreform 2023 eingeführte Zweitstimmendeckungsverfahren im Bundeswahlgesetz mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Das verkündete der Zweite Senat unter Vorsitz von Prof. Dr. Doris König in seinem Urteil am Dienstag, 30. Juli 2024. Die Fünf-Prozent-Sperrklausel im Paragrafen 4 Absatz 2 Satz 2 Nr. 2 des Bundeswahlgesetzes verstoße aber derzeit gegen die Artikel 21 Absatz 1 und Artikel 38 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes.

Bis zu einer Neuregelung gilt die Sperrklausel dem Gericht zufolge mit der Maßgabe fort, dass bei der Sitzverteilung Parteien mit weniger als fünf Prozent der Zweitstimmen nur dann nicht berücksichtigt werden, wenn ihre Bewerber in weniger als drei Wahlkreisen die meisten Erststimmen auf sich vereinigt haben. Diese Maßgabe orientiert sich an der sogenannten Grundmandatsklausel, die im Paragrafen 6 Absatz 3 des Bundeswahlgesetzes in der alten Fassung festgelegt war. Die Maßgabe stärke das Vertrauen darauf, dass die Wahlrechtsreform keine Partei benachteiligt, betonte das Gericht. Die Sperrklausel sei „unter den geltenden rechtlichen und tatsächlichen Rahmenbedingungen“ nicht in vollem Umfang erforderlich, um die Arbeits- und Funktionsfähigkeit des Bundestages zu sichern.

Die Entscheidung zur Zweitstimmendeckung erging laut Gericht einstimmig, die Entscheidung zur Sperrklausel mit 7:1 Stimmen.

Bas: Gericht hat für Rechtssicherheit gesorgt

Für Bundestagspräsidentin Bärbel Bas hat das Gericht im zentralen Punkt der Wahlrechtsreform für „die nötige Klarheit und Rechtssicherheit“ gesorgt. Dass ein Wahlkreissieger künftig nicht mehr automatisch in den Bundestag einzieht, sei als verfassungsrechtlich zulässig erachtet worden. Außerdem sei das Beratungsverfahren im Bundestag nicht beanstandet worden. 

Das Gericht hatte darin, dass die noch im Koalitionsentwurf vorgesehene „angepasste Grundmandatsklausel“ erst während der abschließenden Ausschussberatungen gestrichen worden war, keine Missachtung der Abgeordnetenrechte oder des Öffentlichkeitsgrundsatzes erkannt. Die parlamentarische Beratung diene gerade der Möglichkeit, einen Gesetzentwurf zu verändern. Im Gesetzgebungsverfahren hätten den Abgeordneten genügend Informationen über die Bedeutung der „angepassten Grundmandatsklausel“ beziehungsweise Wahlkreisklausel und ihres Fehlens zur Verfügung gestanden, heißt es zur Begründung.

„Wichtiges Signal an Wählerinnen und Wähler“

„Damit ist die Zahl der Abgeordneten künftig eindeutig auf 630 begrenzt. Das ist auch ein wichtiges Signal an die Wählerinnen und Wähler“, betonte die Bundestagspräsidentin. Es werde kein unkontrolliertes Anwachsen des Deutschen Bundestages mehr geben: „Das begrüße ich als Bundestagspräsidentin, weil dies Planungssicherheit schafft, Kosten begrenzt und die Arbeitsfähigkeit des Bundestages stärkt.“ 

Angesichts der vom Gericht monierten Fünf-Prozent-Sperrklausel in ihrer jetzigen Form gelte es nun, das Urteil in Ruhe abzuwarten, so Bas. Mit Blick auf die nächste Bundestagswahl sei wichtig: „Das neue Wahlrecht funktioniert. Mit dem Urteil haben wir die nötige Rechtssicherheit.“

Normenkontrolle und Organstreitverfahren

Der Bundestag hatte am 17. März 2023 den Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP zur Änderung des Bundeswahlgesetzes und des Fünfundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes (20/5370) in der vom Ausschuss für Inneres und Heimat geänderten Fassung (20/6015) in namentlicher Abstimmung mit 399 Ja-Stimmen bei 261 Nein-Stimmen und 23 Enthaltungen angenommen.

Gegen das neue Wahlrecht lagen dem Gericht Anträge auf abstrakte Normenkontrolle der Bayerischen Staatsregierung (Aktenzeichen: 2 BvF 1 / 23) und von 195 Abgeordneten der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag (2 BvF 3 / 23) vor. Dabei ging es um die Prüfung, ob die Änderung des Bundeswahlgesetzes mit den Grundgesetz-Artikeln 20 Absatz 1 und 2, Artikel 21 Absatz 1 und Artikel 38 Absatz 1 Satz 1 („Die Abgeordneten des Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt“) unvereinbar und nichtig ist. 

Hinzu kamen drei Organstreitverfahren, die von den Parteien CSU (2 BvE 2 /23) und Die Linke (2 BvE 9 / 23) sowie von der ehemaligen Bundestagsfraktion Die Linke (2 BvE 10 / 23) angestrengt worden waren. Die CDU war dem von der CSU beantragten Verfahren beigetreten.

Chancengleichheit der Parteien

Der nur in Bayern zur Wahl antretenden CSU ging es um die Frage, ob der Bundestag durch die Wahlrechtsänderung ihr Recht auf Chancengleichheit und gegen deren Freiheit der Betätigung als politische Partei verstoßen hat. Hilfsweise ging es ihr darum, ob der Bundestag es unterlassen hat, die bundesweit geltende Fünf-Prozent-Sperrklausel so zu ändern, dass sie nicht mehr bundesweit, sondern nur noch länderbezogen gilt. 

Die Partei und die ehemalige Fraktion Die Linke beanstandeten die Streichung der Grundmandatsklausel im Bundeswahlgesetz. Sie ermöglichte den Einzug in den Bundestag entsprechend dem Zweitstimmenanteil auch dann, wenn dieser unter fünf Prozent lag. Bedingung war, dass die Partei mindestens drei Direktmandate erringt, was der Linken bei der Bundestagswahl 2021 gelang. Die Linke sah sich durch die Streichung in ihrem Recht auf Chancengleichheit verletzt und befürchtete, nach der nächsten Bundestagswahl nicht mehr im Parlament vertreten zu sein. 

Erfolgreiche Organklage der CSU

Den Organklageantrag der CSU hielt das Gericht für begründet, weil die Partei durch die Wahlrechtsänderung in ihrem Recht auf Chancengleichheit verletzt worden sei. Die Bedingungen, unter denen die Sperrklausel „über das zur Sicherung der Funktionsfähigkeit des Parlaments Erforderliche“ hinausgeht, träfen auf sie zu. Unbegründet sei hingegen der Organklageantrag der Linken. Sie werde durch den festgestellten Verfassungsverstoß nicht in ihren eigenen Rechten verletzt. Ihre Abgeordneten bildeten keine gemeinsame Fraktion mit denen einer anderen Partei, und es sei auch nicht erkennbar, dass eine solche beabsichtigt werde.

Schließlich lagen dem Gericht Verfassungsbeschwerden von 4.242 Privatpersonen vor, die zum Ziel hatten, die Fünf-Prozent-Sperrklausel im Paragrafen 4 des Bundeswahlgesetzes für nichtig zu erklären (2 BvR 1523 / 23). Eine weitere Verfassungsbeschwerde der Partei Die Linke und von mehr als 150 Privatpersonen zielte ebenfalls auf die Nichtigerklärung der Sperrklausel ab, weil mit dem geänderten Wahlrecht die Grundmandatsklausel gestrichen wurde (2 BvR 1547 / 23).

Verfassungskonforme Zweitstimmendeckung

Das Zweitstimmendeckungsverfahren stellt aus Sicht des Gerichts keine Abkehr von den Grundzügen des bisherigen Wahlrechts dar. Der Gesetzgeber habe sich im Rahmen seines weiten Gestaltungsspielraums für die Beibehaltung der Wahlkreiswahl sowie der Verhältniswahl nach Landeslisten entschieden.

Auch nach der Wahlrechtsänderung gilt: Jeder Wähler hat eine Erststimme für die Wahl eines Wahlkreiskandidaten und eine Zweitstimme für die Wahl der Landesliste einer Partei. Zunächst werden die künftig  630 Bundestagssitze auf die Parteien und ihre Landeslisten verteilt: Jede Partei erhält die ihr nach dem bundesweiten Zweitstimmenergebnis zustehende Sitzzahl. Diese Sitze werden dann auf die Landeslisten der jeweiligen Partei anhand ihrer jeweiligen Anteile an dem bundesweiten Zweitstimmenergebnis verteilt.

Danach rücken die Wahlkreisbewerber mit den meisten Erststimmen ihres Wahlkreises in der Rangfolge ihrer Stimmanteile an die Spitze der Landesliste ihrer Partei und werden bei der Vergabe der Sitze zuerst berücksichtigt. Übersteigt die Zahl der einer Landesliste nach dem Zweitstimmenergebnis zustehenden Sitze die Zahl ihrer erfolgreichen Wahlkreisbewerber, werden die übrigen Sitze an Listenbewerber vergeben. Übersteigt die Zahl der erfolgreichen Wahlkreisbewerber einer Landesliste die Zahl ihrer nach Zweitstimmen gedeckten Sitze, so erhalten die Wahlkreisbewerber mit den geringsten Erststimmenanteilen keinen Sitz zugeteilt.

„Wahlkreiswahl nicht allein entscheidend“

Wenn aus einigen Wahlkreisen nicht der Wahlkreisbewerber mit den meisten Stimmen in den Bundestag einzieht, sondern der Wahlkreis durch andere (Listen-)Abgeordnete im Bundestag vertreten wird, kann laut Gericht nur dann ein Widerspruch erkannt werden, wenn für die Wählerinnen und Wähler in einem Wahlkreis die Wahlkreiswahl als die allein maßgebliche Wahl für die Zuteilung eines Mandats angesehen würde. Nach dem Zweitstimmendeckungsverfahren sei jedoch die Wahlkreiswahl gerade nicht allein entscheidend für den Erhalt eines Mandats. Es sorge vielmehr dafür, dass jeder Abgeordnete des Bundestages durch die Zweitstimmen für seine Partei legitimiert ist.

Das Zweitstimmendeckungsverfahren wurde mit dem Ziel eingeführt, den Bundestag zu verkleinern und die früher üblichen Überhangmandate zu vermeiden. Diese entstanden, wenn eine Partei in einem Land mehr Direktmandate errang als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis zustanden. Um bundesweit das Zweitstimmenergebnis bei der Mandatsverteilung abzubilden, mussten Ausgleichsmandate geschaffen werden, was die Zahl der Mandate weiter vergrößerte und nach der Bundestagswahl 2021 zu 736 Abgeordneten im Bundestag führte. (vom/30.07.2024)