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Marc Jung (Artikel 18 GG)

Audiodatei des Textes zu Marc Jung

King of Thorns, 2024

Mixed Media auf Leinwand, Neonröhren, 150× 200 cm

Während alle Grundrechte bis zu Artikel 17 GG Freiheiten und Persönlichkeitsrechte definieren, die vor allem dazu dienen sollen, den Bürgerinnen und Bürgern Deutschlands ein freies, selbstbestimmtes Leben nach eigener Vorstellung zu ermöglichen, sehen Artikel 18 GG und Artikel 19 GG Möglichkeiten vor, diese gewährten Grundrechte in bestimmten, schwerwiegenden Situationen wieder entziehen zu können. Artikel 18 GG zielt dabei auf Personen und Organisationen, die ihr Recht auf Meinungsfreiheit, Lehrfreiheit, Versammlungsfreiheit, Vereinigungsfreiheit oder in Bezug auf die Regelungen zu Eigentum, Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis oder das Asylrecht aktiv und mit dem erklärten Ziel missbrauchen, die freiheitliche-demokratische Grundordnung zu beseitigen. Artikel 18 GG wird deshalb als Ultima-Ratio- oder auch Notfallinstrument bezeichnet – ein Gesetzestext, der nur dann zur Anwendung kommen soll, wenn andere Institutionen des Rechtsstaats nicht ausreichen, um die Grundordnung zu schützen. Es ist ein drastisches Mittel, das der Parlamentarische Rat hier einführte. Wiederum ist es mit der Vergangenheit des Nationalsozialismus zu erklären und dem unbedingten Willen, dabei auch die Wehrhaftigkeit der Demokratie sicherzustellen. Die Entscheidung über die hier als möglich eingeräumte Verwirkung von Grundrechten steht deshalb nur dem Bundesverfassungsgericht zu – und dieses hat sie noch nie ausgesprochen.

Marc Jung ist ein Künstler, den man früher einen „jungen Wilden“ genannt hätte. In den 1970er und 80er Jahren wählten Malerinnen und Maler aus Westberlin diese Bezeichnung für sich selbst, um ihren Abstand zum etablierten Kunstbetrieb, zu den Vorstellungen von „guter“ Kunst und den Gewissheiten der gewählten Referenzen zu kennzeichnen. Damals funktionierte eine solche Entgegensetzung, weil Kunst innerhalb eines gesellschaftlichen Klimas agierte, in dem es noch Vorstellungen von „richtig“ und „falsch“ gab – beide Begriffe maßgeblich durch den auch in der Kunst ausgetragenen Kampf der Werte- und Gesellschaftssysteme in Ost und West geprägt. Heute, nach dem Ende des Kalten Krieges, sind diese Grenzen aufgelöst, die Freiheit der Kunst und die Globalisierung jenseits der nationalen Politiken hat zur Auflösung alter Dichotomien geführt. Marc Jung fällt trotzdem raus. Wer ihn trifft, sieht alles andere als einen klassischen Künstler. Er ist eher Sportler – tatsächlich früher Leistungssportler im Ringen, sogar auf Bundesliganiveau. Wer seine Kunst sieht, denkt eher an Streetart als an Museum oder Galerie. Was er macht, sind große Graffitis – leuchtend, bunt, laut, offen und voll von allen möglichen Anknüpfungspunkten aus dem Alltag, den Medien, auch der Kunst, denn Marc Jung ist nicht nur ein bestens ausgebildeter Künstler, sondern auch ein Kunstkenner. Er studierte nacheinander und mit dem jeweiligen Abschluss an gleich drei Kunsthochschulen in Weimar, Wien und Dresden bei Lehrenden wie Elfi Fröhlich und Daniel Richter und hat ganz nebenbei ein ausgezeichnetes Bildgedächtnis für die alten Meister, die in den Museen seiner Studienstädte bestens vertreten sind.

In seinen gesprayten Gemälden tauchen Reminiszenzen an andere Künstler auf – etwa an Warhol, Basquiat und Kippenberger, alle drei galten als Tabubrecher der Kunst und standen zu Lebzeiten lange außerhalb des Establishments, auch an Bacon, Grosz oder Dix, je nachdem, wo man schaut. Auf der Suche nach einem adäquaten Werk zu Artikel 18 GG ging Jung historisch noch weiter zurück. Seine Arbeit „King of Thorns“ adaptiert Caravaggios weltberühmtes Gemälde „Die Dornenkrönung Christi“ (1601), das zur Sammlung des Kunsthistorischen Museums Wien gehört.

Michelangelo Merisi da Caravaggio (1571–1610) gilt als einer der bedeutendsten und einflussreichsten Künstler des Barock. Seine Malerei ist durch eine besondere Hell-Dunkelmalweise gekennzeichnet, das sogenannte Chiaroscuro, das durch die Modellierung von Licht und Schatten extreme Effekte im dargestellten Raum ermöglicht und zu einer besonderen Dramatik und Lebendigkeit in der Szenerie führt. Caravaggio fiel damit aus der Zeit. Während sich die Barockmalerei gerade als Rückkehr zu verklärten, emotional bis zur Schwülstigkeit intensiven Darstellungen sakraler Themen entwickelte, die eher religiöse Verzückung, Berauschung und Hingabe symbolisierten, suchte Caravaggio nach möglichst realistischen, dramatisch gesteigerten Entsprechungen zu biblischen Texten und Legenden, die durch die Gegenwärtigkeit seiner Malweise auch immer zu Sinnbildern des Lebens ihrer Betrachtenden wurden.

„Die Dornenkrönung Christi“ gehört auch dazu. Die Szene, die Caravaggio malte, verbildlicht eine Erzählung aus dem Neuen Testament. Es ist, auch wenn im Johannesevangelium nur knapp beschrieben, eigentlich eine Folterszene. Das offensichtlich brutale Verhör endet mit dem Aufsetzen der Dornenkrone, mit der Jesus später ans Kreuz genagelt werden soll. Caravaggios malerische Dramatik ist bis heute jeder/jedem Betrachtenden nachvollziehbar. Die seltsam ruhige Akribie, mit der zwei Soldaten die Dornenkrone mit Stöcken in die Kopfhaut des halbnackten, sitzenden Jesus drücken und Pilatus interessiert dabei zuschaut, ist kaum auszuhalten. Die Darstellung als Allegorie auf das zerstörende Potential der Verbindung von Religion und Macht zu verstehen, war schon damals nicht weit hergeholt.

Jung adaptierte die Komposition in seinem Gemälde. Auch bei ihm sitzt Jesus in der Mitte, um ihn herum stehen drei Gestalten, die eher Teufeln als Soldaten ähneln. Im Gegensatz zu Caravaggios offensichtlich schönem Jesus, dessen Körper noch unversehrt und geradezu makellos ist, zeigt Jung ihn deutlich als vom nahenden Tod gekennzeichnet, denn sein Körper scheint schon die Wundmale der Kreuzigung zu tragen. Die zwei teuflischen Soldaten traktieren seinen Körper mit langen Stangen, Pilatus scheint vollständig mit ihnen im Bunde, überall spritzen Blut und Schweiß. Marc Jung baut seine Szene viel expliziter und weniger aufgeräumt als Caravaggio; das klare, eine wohl orchestrierte Dramatik vorgebende Chiaroscuro ist einer wilden Farborgie gewichen, die ihrerseits durch große Neonbuchstaben überstrahlt wird. Am augenfälligsten sind der feuerrot leuchtende Titel: „King of Thorns“ und ein Batman-Symbol. Im unteren Bildraum dann ein Neonherz mit den Worten „Why I love u“ und ganz rechts, nicht in Neon, sondern wie ein gesprühtes Graffiti auf einer Hauswand, ein „Sweet Baby Jesus“. Alle drei Inschriften und das Symbol sind Zitate aus der Popkultur. „King of Thorns“, die englische Übersetzung des Begriffes Dornenkönig, erinnert an die Typographie der Serie „Game of Thrones“, einem Kampf von sieben Königreichen um die Weltherrschaft. Das ikonische Batman-Symbol rechts oben ist eine Reminiszenz an die gleichnamige Comicreihe. Dort wird es immer dann per Scheinwerfer in den Himmel projiziert, wenn Gotham City im Kampf gegen das Böse nach Hilfe ruft, weil die Menschen nicht mehr dagegen ankommen. Das Herz, das Kirchgänger zunächst an die Darstellung des „Herz Jesu“ erinnern mag, zitiert einen Song der Hip-Hop Sänger Kanye West und Jay-Z von deren Album „Watch the Throne“. Jay-Z spricht darin aus einer Jesus-ähnlichen Perspektive: „I love you so, but why I love you I’ll never know (...) Wasn’t I a good king? (...) I’ll be fly when Easter’s over“. Und dann „Sweet Baby Jesus“, das zugleich für ein Weihnachtslied als auch für dessen krasse Techno-Verballhornung der Berliner Rapperin Ikkimel steht. Auch die Figuren der Szene tragen Kennzeichen der Popkultur, nur dass es hier eher um Marken und Labels geht: Während der rechte Soldat Unterhosen mit dem Logo der Modemarke Chanel und Adidas-Schuhe trägt, ist Pilatus Rüstung mit „Prada“ beschrieben.

Marc Jungs „Dornenkönig“ ist damit weit mehr als eine popkulturelle Aneignung des barocken Gemäldes. Es ist ein ähnlich drastisches Statement wie Caravaggios Original. Nur dass bei Jung nicht Religion und Macht, sondern Konsum und Macht im Mittelpunkt stehen. Mit Blick auf die durch Artikel 18 GG signalisierte Gefahr, dass die Werte des Grundgesetzes und der darauf basierende Rechtsstaat existentiell bedroht werden könnten, bietet er einen Ansatz, der weniger auf die Anderen, vor denen uns Artikel 18 GG schützen soll, und mehr auf uns selbst verweist. Wir sind die Trägerinnen und Träger einer Konsumgesellschaft, die drauf und dran ist, ihre Werte dem Geld, der Intrige und dem schönen Schein zu opfern, einer Gesellschaft, in der Grundsätzliches übersteigert als Ironie und Sarkasmus verhandelt wird, wie im erwähnten Rapsong, der mit den Zeilen beginnt: „Vater, Sohn und Heiliger Geist / Möget ihr mich noch reicher machen / Amen“ (Ikkimel)

Der Ruf nach einem Superhelden als letztes Mittel – vielleicht ist es ein Hoffnungsschimmer, der durch Jesus und Batman aufscheint, denn bekanntermaßen waren auch sie in Wirklichkeit „normale“ Menschen, wundertätige, mit Superkräften, aber eben menschlich und vor allem bereit, die Welt gegen das Schlechte und Böse zu verteidigen. Jung erläuterte:

Mir geht es in meinen Arbeiten generell um den Kampf für die Gerechtigkeit, die oft gegen unsere menschlichen Schwächen ankämpfen muss. Hier, in diesem Werk, hat sich sogar ein Mensch geopfert. Trotzdem wird er nicht verschont. (M.J.)