Guillaume Bruère (Artikel 16a GG)
Audiodatei des Textes zu Guillaume Bruère
o.T., 2025
Hasenleim, Pigmente und Acryl auf Leinen, 50×65×2,5 cm
Das Grundrecht auf Asyl in Artikel 16 bestand von 1949 bis zur Aufnahme von Artikel 16a im Jahr 1993 aus einem einzigen Satz, der lautete: „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“. Vor dem Hintergrund des stark angestiegenen Zuzugs von Geflüchteten vor allem aus dem ehemaligen Jugoslawien und den entsprechenden Anträgen auf Gewährung von Asyl sollte Artikel 16a das bis dahin vorbehaltlos gewährte Asylrecht präzisieren und dem Staat bessere Regulierungsmöglichkeiten eröffnen. Die öffentliche Debatte, die dieser Grundgesetzänderung vorausging, war groß; kritische Stimmen kamen nicht nur aus einzelnen Fraktionen, sondern auch aus der Zivilgesellschaft. Bis heute ist Artikel 16a von zentraler und aktueller Bedeutung. So ist die Frage, welche und wie viele Menschen in Deutschland Asyl bekommen, regelmäßig Thema im Vorfeld von Wahlen auf Bundes-, Landes- und Kommunalebene.
Guillaume Bruère gestaltete zum Thema ein Gemälde, das einen Totenkopf zeigt. Die Malfläche im Hintergrund ist aus vielen übereinanderliegenden, lasierenden Farbschichten komponiert und bildet einen dichten Grünton, in dem einzig eine Figur zu erahnen ist. Während die grüne Fläche an dichte Wälder erinnert, ruft eine blaue Fläche rechts die Erinnerung an Himmel und Meer hervor. Alle aufgerufenen Assoziationsebenen erinnern an konkrete mediale Bilder, die wir heute mit Flucht verbinden. Besonders der Totenschädel scheint an die vielen Opfer unsicherer Fluchtrouten und missglückter Überfahrten auf dem Mittelmeer zu erinnern – aber das ist nicht Bruères Intention. Vielmehr stellt er die Frage grundsätzlicher, der Schädel symbolisiert für ihn nicht vorrangig Tote und Opfer, sondern die Menschheit im Allgemeinen:
Ich wollte kein illustratives Gemälde des Artikels 16a des Grundgesetzes schaffen. Im Laufe der Zeit kehrte ich zum Totenschädel zurück, der das markanteste Motiv der Gemälde ist, die als Vanitas bezeichnet werden. Als Symbol für die Endlichkeit der Menschen und die verrinnende Zeit verweist der Schädel auch auf eine Zeitskala, die viel länger ist als die der Entstehung von Staaten. Es deutet auf die Zeit hin, in der sich Menschen auf der Erde bewegten, ohne ihre Ausdehnung zu kennen, und in der die einzigen Grenzen natürliche und nicht politische waren. Mein Bild möchte ein Gebet sein, eines für eine Annäherung zwischen den Völkern. (G.B.)
Bruère folgt damit einem malerischen Konzept, das er in vielen Zyklen seines Werks verfolgt. Er sucht nach Metaphern und greift dabei auf Themen der Kunstgeschichte zurück, die Teil unseres Bildgedächtnisses geworden sind. In diesem Fall bezieht er sich auf Vanitasmotive, symbolische Darstellungen, die die Vergänglichkeit des Lebens, die Eitelkeit und die Nichtigkeit irdischer Güter thematisieren. Sie dienen als Mahnung an die Sterblichkeit des Menschen und an die Bedeutungslosigkeit weltlicher Freuden, wurden meist in prächtigen Stillleben präsentiert, aber auch in Herrscherporträts eingewoben. Der Totenschädel ist dabei das am meisten verwendete Symbol, aber auch Uhren, verwelkende Blumen, Kerzen gehören zum Motivkreis von Vanitasdarstellungen.
Bruère ist ein exzellenter Kenner der Kunstgeschichte. Seine ersten großen Serien entstanden in bedeutenden Museen Europas: Er zeichnete in verschiedenen Sammlungen Wiens, in der Berliner Gemäldegalerie, an der Vincent-van-Gogh-Foundation in Arles, später im Paula Modersohn-Becker-Museum Bremen und an vielen anderen Institutionen vor den Porträts alter Meister. Er transformierte sie in völlig unabhängige Momentaufnahmen von Menschen, die längst nicht mehr als Individuen von uns erinnert werden, sondern ikonenhaft Teil unseres Bildgedächtnisses und Kulturverständnisses geworden sind. Parallel entwickelte er eine eigene Herangehensweise an großformatige Gemälde, in denen er – oft von der christlichen Ikonographie abgeleitet – Menschheitsthemen neu bearbeitet: Leben, Tod, Auferstehung, Schuld, Sühne, Ruhm, Leid, Versehrtheit sind Themen, die in seinen Gemälden aufscheinen und nach neuen Formen suchen.
Neben dieser Bearbeitung kanonischer Bildformen sucht Bruère quasi kontradiktisch nach dem heutigen Menschen. Der individuelle Mensch und seine Geschichte, sein Leid, sein Wohlergehen interessieren Bruère, und er zeichnet und malt Porträts vor allem von jenen, die oft an den Rändern der Gesellschaft leben und weder damals noch heute porträtiert wurden. Ende 2015 etwa begann Bruère damit, in der Nähe seines Wohnortes Geflüchtete zu porträtieren: Menschen aus Syrien, Afghanistan, dem Iran: Alte und Junge, Frauen, Männer und Kinder, Familien, Paare, Einzelne, die in einer der vielen Notunterkünfte Berlins auf die Entscheidung über ihren Asylantrag warteten. Dabei sucht er genau wie in den Porträts der alten Meister nach der Würde des Augenblicks, der Essenz der Erscheinung. Er verzichtet auf Attribute und alle erzählerischen Zugaben und vertraut auf das Gesicht als Träger der individuellen Persönlichkeit gemäß der Philosophin Judith Butler: „Auf das Gesicht zu reagieren, seine Bedeutung zu verstehen, heißt, wach zu sein für das, was an einem anderen Leben gefährdet ist, oder vielmehr wach zu sein für die Gefährdetheit des Lebens an sich.“
2024 richtete er in einer Berliner Obdachlosenunterkunft über mehrere Monate ein Atelier ein und fertigte großformatige Porträts von all jenen, die interessiert waren, jeweils zwei Mal: Einmal, um in das Wesen des Modells einzutauchen, im Detail, über zahlreiche Farbschichten aufgebaut – direkt danach ein zweites Mal, wenn nicht die Präsenz des Gegenübers, sondern die Erinnerung an dieses eine Art Essenz der Erscheinung ermöglichte. Vor dem Hintergrund dieser vielfachen Begegnungen mit höchst fragilen Existenzen, darunter zahlreiche Menschen, die von Artikel 16a GG unmittelbar betroffen sind, entschied er sich für eine Metapher, die eher zurückgenommen still an die Wurzeln der Menschheit und an das Motiv, sich Heimat neu zu suchen, erinnert.