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Fatoş İrwen (Artikel 15 GG)

Audiodatei des Textes zu Fatoş İrwen

Dream Land, 2023

(aus der Serie „Cracking Borders“) Erde aus drei verschiedenen Städten (Berlin, Diyarbakır und Istanbul), menschliches Haar, menschliche Haut, verschiedene organische Harze, Acrylfarbe, organischer Kleber und goldene Blätter auf Leinwand mit LED-Licht, Ø 90 cm

Courtesy of the artist and Zilberman, Istanbul/Berlin/Miami

Viele der Diskussionen, die in den Jahren 1948 und 1949 um das Grundgesetz geführt wurden, waren konfliktreicher, als das Ergebnis es erahnen lässt. Besonders die Aushandlung der Grundrechte als den tragenden Säulen der Verfassungsordnung und Ausdruck all jener Werte, auf denen die Bundesrepublik Deutschland dauerhaft basieren sollte, führte zu ausführlichen und oft heftig geführten Debatten, in denen – repräsentiert durch die Fraktionen – Welten aufeinandertrafen. Artikel 15 GG war einer dieser Artikel. Nachdem Artikel 14 GG die Eigentumsfrage behandelt hatte, widmete sich Artikel 15 GG der Frage, ob der Staat Privateigentum an „Grund und Boden, Naturschätze[n] und Produktionsmittel[n]“ vergesellschaften könne. Hintergrund dieser Festlegung war nicht weniger als ein Kampf um die Frage, durch wen das zerstörte Deutschland wieder aufgebaut werden könne und wem dieses Land dann gehören werde.

An der Debatte beteiligten sich die wichtigsten Politiker jener Zeit: Konrad Adenauer – der spätere erste Bundeskanzler und Vorsitzende der CDU – war ein wichtiger Akteur in den Diskussionen und setzte sich für eine sozial ausgewogene Eigentumspolitik ein. Die CDU/ CSU und andere bürgerliche Parteien betonten die Bedeutung des Privateigentums und der freien Marktwirtschaft und folgten damit den Westalliierten, die ihrerseits Einflüsse auf die Ausrichtung der neuen Verfassung nahmen. Willy Brandt – später der vierte Bundeskanzler und hier als Vertreter der SPD – betonte die Notwendigkeit von sozialer Gerechtigkeit, und sein Parteikollege Erich Ollenhauer setzte sich für die Belange der Arbeitenden und die soziale Verantwortung des Staates ein. Die gesamte SPD-Fraktion befürwortete eine stärkere staatliche Kontrolle über die Wirtschaft und forderte die Möglichkeit der Vergesellschaftung von Schlüsselindustrien und Grundbesitz. Theodor Heuss, der später zum ersten Bundespräsidenten gewählt wurde, vertrat als Mitglied der FDP die liberale Sichtweise auf Eigentum und individuelle Rechte. Für und Wider teilten den Wunsch, eine planvolle Wirtschaftsentwicklung zu ermöglichen auf der einen Seite, während auf der anderen Seite die Einführung einer Planwirtschaft befürchtet wurde, die eine schnelle wirtschaftliche Entwicklung behindert hätte. Am Ende fand Artikel 15 GG einen Kompromiss. Einerseits trifft er keine Entscheidung über Vergesellschaftungen, sondern verschiebt die grundsätzliche Möglichkeit dafür in die Zukunft. Dass man sie nicht gänzlich ausschloss, ist ein wichtiges Zeichen dafür, dass der Parlamentarische Rat eine Wirtschaftsordnung anstrebte, die eine Balance zwischen dem Schutz des Eigentums und der Verantwortung des Staates für das Gemeinwohl herstellt.

Sowohl der Begriff des Gemeinwohls, der seit vielen Jahrhunderten Staatsphilosophinnen und Staatsphilosophen beschäftigt und staatliche Maßnahmen beschreiben soll, die dem Wohl aller Bürgerinnen und Bürger dienen, als auch die im Artikel genannten Kategorien von „Grund und Boden, Naturschätze[n] und Produktionsmittel[n]“ waren die Anknüpfungspunkte für Fatoş İrwen. Die kurdische Künstlerin arbeitet seit vielen Jahren mit Erde und anderen organischen Materialien, die sie zu Werken verarbeitet, in denen komplexe Assoziationsebenen zwischen Mensch und Gesellschaft, Landschaft und Gedächtnis, Individuum und Gemeinschaft, Traum und Wirklichkeit aufgemacht werden.

Fatoş İrwen wuchs in Diyarbakır in Südanatolien auf, einem Ort, dessen Wurzeln bis in die Steinzeit zurückreichen. Sie erlebte die Zerstörung der Altstadt durch das große Erdbeben im Jahr 2023. Und sie erlebte die Zerstörung von Stadt und Landschaft durch Krieg, denn Diyarbakır ist das Zentrum der kurdischen Gemeinschaft in der Türkei und ist seit Jahrzehnten Ort der oft gewaltvollen politischen Auseinandersetzungen. İrwen war selbst drei Jahre lang inhaftiert. 

Ihre Serie „Cracking Borders“ bestand ursprünglich aus 40 kleinformatigen Tafeln, deren Oberfläche sie nicht mit Farbe bemalte, sondern mit Erde, dem Grundstoff des Lebens, beschichtete: „Die Erde bebt, zerstört, vertreibt, aber sie nährt auch. In der von Fatoş İrwen gesammelten Erde finden sich die Erinnerungen von Heiligen und Vögeln, Spuren des Devlet-Bahçeli-Gedenkwaldes, der auf dem Kırklar-Berg anstelle der abgerissenen Gebäude (...) errichtet werden soll, die Überreste neuer Geologien, die durch Bautätigkeiten, Erdbeben, Zerstörungen, Kriege, Anschläge und Schutt entstanden sind (...) Die Geologen nennen das Zeitalter, in dem wir leben (...) Kapitolozän, aufgrund der Nebenwirkungen des Kapitals: So heißt die geologische Periode, in der die technologische Aktivität, die um des Überschusses Willen nicht zur Ruhe kommt, Land, Boden, Atmosphäre, Biosphäre und Meere prägt. Erde ist in unserem Zeitalter nicht nur Erde. Es ist auch ein Haufen zerbrochener Beton, Stahl, Körperteile, Knochen, Haare, verschiedener persönlicher Gegenstände.“28 

In ihrer Arbeit zu Artikel 15 GG verwendet sie Erde aus Berlin, Diyarbakır und Istanbul, auch organische Materialien wie Haare und Haut, die von den unterschiedlichen Leben und Schicksalen der Menschen in diesen Städten zeugen. Mit einer LED-Leuchte ausgestattet, leuchtet das Werk wie eine dunkle Erdsonne. Sie nennt es „Dreamland“ und entwirft damit eine Utopie, in der menschengemachte Grenzen brechen und größere, übergeordnete Werte und Zusammenhänge das Leben der Menschen bestimmen sollten. Es ist der Entwurf eines Gemeinwohls in einem größeren, dem Alltag völlig übergeordneten Sinne:

So wie wir Gesetze über bestimmte Interessen stellen, müssen wir meines Erachtens die Macht eines ungeschriebenen Naturgesetzes über Gesetze anerkennen. Das ist eine Ebene, die auch die Menschheit, mitsamt der von ihr geschaffenen Gesetze akzeptieren muss. Der Raum der Erde, den wir mit Grenzen versehen und umbauen, ist letztlich ein Ort, der aus sich selbst heraus handeln kann. Doch wenn die Zeit gekommen ist, erinnert uns die Erde daran, dass wir dies vergessen haben. Und die Kraft der Erde, der Natur, hat eine zerstörerische, brennende und schöpferische Bewegungsfreiheit unabhängig von allen festgelegten Grenzen, Kulturen, allen politisch-ideologischen Lehren und Überzeugungen. So wie die Erdschichten, so wie der Vulkan, der scheinbar stillsteht, aber auf den Zeitpunkt wartet, an dem er handeln wird.

In der Fortsetzung meiner Serie „Cracking Borders“ kamen viele organische Elemente wie Böden aus verschiedenen Gegenden (Berlin, Istanbul, Diyarbakır), organisches Harz, menschliche Haare, Nägel, Haut, Überreste, Pflanzenpartikel usw. zusammen. „Dream Land“ entstand genau mit diesem Gefühl der Akzeptanz von Unterschieden, mit dem Traum von einer bescheidenen, aber radikalen Einheit. Seit Tausenden von Jahren gibt es Landkriege, Migrationen, Grenzziehungen sowie Politik, Massaker, Kultur- und Glaubenskriege. Ich bin der Meinung, dass die einzige Möglichkeit für uns, weiterhin auf dem Boden der Erde zu leben, darin besteht, zu akzeptieren, dass unsere Grenzen zerbrechliche Strukturen sind, die jederzeit Risse bekommen und sich auflösen können, und dass wir Widerstand leisten werden, wenn wir die Flexibilität gewinnen, die diese Akzeptanz schafft. (F.I.)