Said Baalbaki (Artikel 11)
Audiodatei des Textes zu Said Baalbaki
Heimat ist kein Souvenirshop, 2024
Fünf Kohleskulpturen (Reichstag, Brandenburger Tor, Siegessäule, Friedrichswerdersche Kirche, Gedächtniskirche), Kohle, Kohlepulver, Asphalt, Gummi Arabicum
„Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus“, schrieb Wilhelm Müller in einem Gutenachtlied, das 1824 in einem Bändchen mit dem Titel „Gedichte aus den hinterlassenen Papieren eines reisenden Waldhornisten“ erschien. Die beiden Zeilen wurden zum Titel für eine Lesung im Jahr 2023, die während einer Ausstellung Said Baalbakis ausgerichtet wurde. Baalbaki, der in Berlin lebende libanesische Künstler, hatte sie einem längst verstorbenen, zwischenzeitlich fast vergessenen Bildhauer gewidmet: Jussuf Abbo, der 1888 in Safed in der Provinz Beirut im heutigen Libanon in eine Bauernfamilie geboren worden und 1911 nach Berlin gekommen war, um an der Kunstakademie Bildhauerei zu studieren. Abbo wurde schnell erfolgreich. Seine strengen, auf wenige Formen reduzierten Skulpturen und Zeichnungen wurden schon 1917 in der Berliner Secession ausgestellt, die Neue Nationalgalerie kaufte Zeichnungen an. Er wird als exzentrischer Künstler beschrieben, der einen ausschweifenden Lebensstil pflegte und in der Berliner Künstlerszene beliebt und mit vielen Künstlerinnen und Künstlern befreundet war. Abbo entstammte einer jüdischen Familie, für ihn galten deshalb ab 1933 die Rassegesetze der Nationalsozialisten. 1935 gelangen ihm und seiner Frau die Ausreise nach England, Abbos Kunst aber wurde in Deutschland nicht freigegeben – obwohl seine Werke aus allen Museen und Sammlungen mit der Begründung entfernt worden waren, sie seien „entartet“. In England fasste Abbo nie wirklich Fuß, er starb 1953 verarmt in London.
Jussuf Abbo war ein künstlerischer Nomade, der in Berlin Heimat gesucht hatte und doch nicht fand. Baalbaki hatte seine Ausstellung deshalb „Der heimatlose Prinz“ genannt. Die Parallelen zwischen Abbo und Baalbaki liegen auf der Hand: Beide stammen aus der Levante und wählten Berlin als Mittelpunkt ihres Lebens, und die Frage nach Heimat und Beheimatung, auch die Frage nach der freien Wahl des Wohnsitzes, der in Artikel 11 GG beschrieben wird, sind bzw. waren ein zentrales Lebensmotiv.
Dass dieser Artikel zur sogenannten Freizügigkeit einen solch zentralen Platz in den Grundrechten erhielt, erklärt sich wie bei vielen anderen Artikeln auch durch die unmittelbare Vergangenheit, auf die sich die Mütter und Väter des Grundgesetzes 1949 bezogen: Die Nürnberger Gesetze von 1935 hatten ein System der Diskriminierung etabliert, das die Bewegungsfreiheit Vieler einschränkte. Jüdinnen und Juden, aber auch Menschen aus den von Deutschland besetzten Gebieten in Polen und Tschechien, wurden zur Zwangsarbeit verpflichtet. Die freie Wahl eines Wohnsitzes kam für sie nie in Frage. Die Vertreibung von Jüdinnen und Juden, Sinti und Roma, politischen Oppositionellen und Homosexuellen aus ihren Wohnungen und Städten und ihre erzwungene Internierung in Lagern gehörten zur Tagesordnung. Zudem führte der nationalsozialistische Staat Zwangsumsiedlungen durch, bei denen Menschen aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Freizügigkeit zu einem Grundrecht zu machen ist vor diesem Hintergrund nur folgerichtig.
Für Said Baalbaki war der Auftrag zu
Artikel 11 GG Anlass, sich – erneut – mit der Frage nach Heimat zu beschäftigen. Bereits vor der Auseinandersetzung mit Abbo hatte er eigene Erfahrungen im libanesischen Bürgerkrieg, in dem er als Kind mit seiner Familie wiederholt aus Häusern und Wohnungen vertrieben worden war, in großformatige Gemälde und subtile Grafiken transformiert. Der Gemäldezyklus „Mon(t) Liban“ etwa zeigt Berge, die bei flüchtiger Betrachtung wie das Libanongebirge wirken und sich bei näherem Hinsehen als Türme übereinander gestapelter Koffer und Kleidung entpuppen: Zeichen für die am eigenen Leib erfahrene Heimatlosigkeit und das verlorene, vergessene, zerrissene Leben auf der Flucht, zugleich auch ein Zeichen der Sehnsucht, denn die Farbigkeit der Gemälde weckt Erinnerungen an blaue Abendstunden, in denen der Sonnenuntergang die Landschaft sanft erleuchtet. In den Grafikserien „Wadi Abou Jmil“ und „Nos Âmes en Chantier“ spürte er den unfreiwilligen Verwandlungen der Häuser seiner Heimatstadt Beirut nach. Vor dem Libanonkrieg galt die Stadt als „Paris des Ostens“. Es war eine kosmopolitische, wohlhabende Stadt, deren Viertel von bürgerlichem Wohlstand zeugten und in einer Mischung aus westlichem und östlichem Lebensstil auch viele Europäerinnen und Europäer in ihren Bann zog. Der Libanonkrieg zerstörte dieses alte Beirut. Baalbaki erzählt diese Geschichte am Beispiel der Häuser und Fassaden, indem er die Epochen des einstigen Wohlstands mit denen der Zerstörung, der Unbehaustheit und des Wiederaufbaus überlagert.
Für die Arbeit zu Artikel 11 GG knüpft Baalbaki an sein jüngstes Projekt an. Für „Black Rock“ [dt. schwarzer Stein] thematisierte er die Verbindung zwischen Glauben, Religion und Geld und baute aus Kohle – in Erinnerung an die Holzbausteine seiner Kindheit – bedeutende Gebäude wie Museen, Moscheen, Kirchen oder Bankgebäude nach. Die schwarzen Skulpturen, die mit viel Liebe zum Detail Miniaturversionen der großen, vorbildgebenden Bauwerke darstellten, öffneten einen Reflexionsraum, in dem einerseits die politische Dimension von Architektur als Zeichen für Macht und Einfluss, andererseits deren Vergänglichkeit thematisiert wurden.
Für die Arbeit „Heimat ist kein Souvenirshop“ geht er einen Schritt weiter und stellt die Frage, was eigentlich Heimat bedeutet, wenn sie nicht unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten betrachtet oder als Ware gehandelt wird. Die fünf Kohleskulpturen zeigen Wahrzeichen seiner Wahlheimat Berlin: Das Brandenburger Tor, das Reichstagsgebäude, die Siegessäule, die Gedächtniskirche und die Friedrichswerdersche Kirche. Er verwendete dafür schwarze Kohleblöcke, die für die traditionelle Shisha-Pfeife genutzt werden und erläuterte den Prozess hinter dem Werk so:
Seit Jahren ist Kohle, Braunkohle, ein Bestandteil meines künstlerischen Schaffens. Ich bin selbst kein Raucher. Die Wahl von Shisha-Kohle als Material war trotzdem kein Zufall, sondern das Ergebnis eines realen Wandels – ausgelöst durch den Krieg in der Ukraine. Plötzlich wurde die Braunkohle knapp. Das Sedimentgestein eine Mangelware. In diesem Moment begann meine Suche nach Alternativen – und führte mich zur Shisha-Kohle. So wird das Projekt nicht nur eine künstlerische Auseinandersetzung mit Identität, Erinnerung und urbaner Geschichte, sondern auch eine persönliche Geschichte von Anpassung und Wandel, die durch die geopolitischen Ereignisse der letzten Jahre geprägt wurde. Diese Verknüpfung ist zentral. Sie zeigt, wie sich globale Krisen auf lokale Realitäten auswirken, wie Material nicht nur eine physische, sondern auch eine historische und emotionale Bedeutung hat.
Schnell war ich fasziniert von diesem Stoff. Die Kohleblocks erinnerten mich an Bauklötze, mit denen ich als Kind gespielt habe – einfache, aber kraftvolle Objekte, die die Welt formten. Wie Bauklötze, lässt sich auch Shisha-Kohle stapeln, zusammensetzen, schneiden, schleifen und neugestalten – was für mich eine gewisse kindliche Freude verkörpert. Plötzlich entwickelt sich das Projekt zu einem Raum, in dem sich zwei sehr persönliche Erinnerungen miteinander verflechten: Die Braunkohle als Berliner Erfahrung und die Erinnerungen an meine Kindheit in Beirut während des Bürgerkriegs.
Das Wort Souvenir trägt die Bedeutung des Erinnerns (se souvenir de – sich erinnern) in sich und versteckt auch eine ökonomische Ebene. Sou war einst eine französische Münze, ein Synonym für Geld. In Souvenir steckt also nicht nur das Venir – das Kommen, das Zurückkehren der Erinnerung –, sondern auch ein Verweis auf den Wert, den Handel, die Kommerzialisierung. In dieser Verschmelzung von persönlichen und globalen Erfahrungen wird Heimat nicht länger als fixierte, kommerzialisierte Idee verstanden, sondern als dynamischer, lebendiger Raum, der ständig neu definiert werden muss.
Souvenirs sind oft auf ihre Funktion als Konsumgüter reduziert – schnell produziert, billig verkauft, aber tief in der Wahrnehmung als kitschig und oberflächlich verwurzelt. Das Bild von Berlin, das in Souvenirläden verkauft wird, ist meist eine vereinfachte, idealisierte Version der Stadt.
Die Wahl von Shisha-Kohle als Material für Berliner Wahrzeichen macht sichtbar, wie Erinnerungen und Identitäten über das Konsumierbare geformt werden. Doch im Gegensatz zu den Touristen-Souvenirs, die unkritisch verkauft werden, stelle ich den Kitsch in den Kontext einer tiefergehenden persönlichen Auseinandersetzung. Souvenir-Objekte werden durch die Verwendung von Kohle nicht nur banalisiert, sondern aufgeladen mit der Geschichte von Migration, von Zugehörigkeit und von der Frage, wie wir uns selbst und unsere Erinnerungen in einer globalisierten Welt verorten.
Die Shisha-Kohle ist oft mit negativen Vorurteilen behaftet. Sie ist nicht nur ein alltäglicher Brennstoff, sondern auch ein Symbol, das oft mit orientalischen Klischees beladen ist. Und wird für viele ein Zeichen von Fremdheit, von „anderer“ Lebensweise.
Der verkohlte Aspekt der Objekte ruft bei mir ein Gefühl des Erschreckens hervor. Der schwarze, zerbrochene Zustand erinnert mich an zerstörte Städte – an die Spuren von Gewalt und Verfall. Eine schmerzhafte Verbindung zu den Ruinen – zu Orten, die von Geschichte gezeichnet sind, und die in ihrer Zerstörung eine neue, verstörende Ästhetik der Erinnerung tragen. Besonders in dieser Zeit des Elends nimmt der verkohlte Aspekt dieser Objekte eine noch tiefere Bedeutung an. Sie wirken wie Mahnmale für die heutige Welt.
Kunstwerke spiegeln die Biografien der Künstler wider. Sie zeigen, wie sich persönliche Erfahrungen und Erinnerungen mit der Geschichte einer Stadt verknüpfen, wie Vergangenheit und Gegenwart, Herkunft und Ankunft ineinandergreifen. Zwischen Beirut und Berlin, zwischen individuellen Erfahrungen und historischen
Entwicklungen, zwischen dem, was Heimat war, und dem, was Heimat geworden ist. Für mich war die Entscheidung für Berlin als Wahlheimat nie ökonomisch begründet. Vielleicht erklärt das, warum ich Touristenattraktionen immer ablehnte – besonders, wenn ich mit meinen Gästen durch die Stadt spazierte.
In „Heimat ist kein Souvenir-shop“ verschmelzen die verschiedenen Ebenen ineinander: Berliner Vergangenheit und Gegenwart, meine eigene Biografie, geopolitische Umbrüche und die Frage, was Heimat und Zugehörigkeit wirklich bedeuten. Es zeigt, dass Identität nicht statisch ist – sie ist ein Prozess, beeinflusst von persönlichen Erlebnissen, aber auch von globalen Ereignissen, die unser Leben und unsere Wahrnehmung verändern.
Heimat ist kein Produkt. Sie ist etwas Gelebtes. Sie verändert sich, sie bewegt sich zwischen Orten, sie trägt Spuren verschiedener Zeiten in sich. Heimat ist ein dynamischer Prozess, ein Ort der Verhandlungen und gleich der Verborgenheit, ein Raum, in dem persönliche und kollektive Erinnerungen aufeinander-treffen. An erster Stelle: Für den Künstler ist Heimat der Ort, an dem er sich entfalten kann. (S.B.)