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Via Lewandowsky (Artikel 10 GG)

Audiodatei des Textes zu Via Lewandowsky

EINS ZUM ANDERN, 2025

31 Einsteinkacheln, PLA-Filament-Druck, Graffiti-Lack, 188×340 cm

„Briefe gehören zu den wichtigsten Denkmälern, die der einzelne Mensch hinterlassen kann“, sagte Goethe. Er selbst hat 20.000 Briefe geschrieben und 24.000 erhalten. Von nahezu allen großen Philosophinnen und Philosophen, Literaten, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern und Künstlerinnen und Künstlern sind Briefwechsel erhalten, die unsere Vorstellungen und unser Wissen über die damalige Welt oft mehr erhellen als alle Romane und wissenschaftlichen Abhandlungen es je könnten. Grundlage für jene Briefkultur, die Goethe postulierte, ist die Post – eine Gründung aus dem Jahr 1490 unter Kaiser Maximilian I. im Heiligen Römischen Reich. Die Briefkultur, die sich damit in Deutschland im Laufe der Jahrhunderte etablierte, gehört vielleicht zu den wichtigsten Überlieferungen aus der Vergangenheit. Vor allem jene persönlichen, damals mit Bedacht und Ausdauer geschriebenen Berichte, in denen es sowohl um privates Glück (und Unglück) als auch um wichtige Erkenntnisse und Entdeckungen, um Betrachtungen zur Welt und Ideen zu deren Verbesserung gegangen sein mag, berichten davon, wie Menschen gelebt, gefühlt und gedacht haben, wie sich ihr Leben veränderte, weil Krieg oder Frieden, Armut oder Reichtum, technischer Fortschritt, Überschwemmungen oder Dürren und Missernten es bestimmten.

Als das Grundgesetz 1949 verabschiedet wurde, war diese Briefkultur lebendig. Die beiden Weltkriege hatten sie sogar zu großer Blüte getrieben, denn nicht nur für die Soldaten waren die Briefe die einzige Möglichkeit, von zuhause zu erfahren, auch für die vielen in den Kriegswirren heimatlos Gewordenen waren Briefe die einzige Möglichkeit, mit der Familie in Kontakt zu bleiben. Da die Siegel des Kaisers aus den frühen Tagen der Postgeschichte inzwischen der Vergangenheit angehörten, trat nun ein Artikel im Grundgesetz an ihre Stelle. Auch er hat den Sinn, den Staat aus den Korrespondenzen seiner Bürgerinnen und Bürger rauszuhalten, ganz gleich, ob diese sich privat, geschäftlich oder amtlich austauschen – solange sie, und das stellt Absatz 2 des Artikels klar, nicht die freiheitlich demokratische Grundordnung gefährden.

Einen ähnlichen Paragrafen gab es auch in der Verfassung der DDR. Artikel 18 sicherte den Bürgerinnen und Bürgern mit fast dem gleichen Wortlaut wie im Grundgesetz die Unverletzlichkeit von Post- und Fernmeldegeheimnis zu, was jedoch durch die staatlich angeordnete Überwachung der Bürgerinnen und Bürger systematisch unterlaufen wurde. Das regelmäßige Öffnen der privaten Post, die zwischen Freunden und Familien, zwischen Bundesrepublik und DDR hin- und hergeschickt wurde, führte zu einer künstlerischen Gegenbewegung: Die sogenannte Mail Art, ursprünglich Anfang der 1970er Jahre in den USA begründet, wurde in der DDR in den achtziger Jahren zu einer Bewegung oppositioneller Künstlerinnen und Künstler, in der – nicht versiegelt, sondern offen für jedermann lesbar – selbstgestaltete Postkarten versendet wurden. Die Botschaften, die mit den Karten verbreitet wurden, waren je nach Anlass und Person hochpolitische Friedensbotschaften oder fiktive Ausstellungseinladungen, oft wurde dabei auf tagespolitische Themen und Parolen Bezug genommen. Die DDR-Mail-Artisten wurden von der Staatssicherheit als Systemfeinde behandelt. Besonders schwer empfundene Tatbestände wurden als „Herabwürdigung der DDR“ deklariert und mit Haftstrafen geahndet. 

75 Jahre nach dem Inkrafttreten des Grundgesetzes hat sich die Welt erheblich verändert, und mit Blick auf die Grundrechte dürfte es kaum einen Artikel geben, dessen Rahmenbedingungen sich seitdem so grundsätzlich wandelten. Post zu bekommen, bedeutet heute für die meisten Menschen vor allem Rechnungen, amtliche Mitteilungen, Wahlbenachrichtigungen oder Werbematerialien im Briefkasten vorzufinden – ausführliche Briefe aber sind eher eine Seltenheit, sogar Urlaubspostkarten sind aus der Mode gekommen. An ihre Stelle sind die sozialen Medien und Messengerdienste getreten, die ausführliche Briefe durch kurze Nachrichten und Bilder ablösten und Zustellzeiten auf ein paar Millisekunden schrumpften. Anstelle des Postgeheimnisses gibt es Datenschutzverordnungen, die die Nutzenden vor Missbrauch schützen.

Diesem Thema widmet Via Lewandowsky seine Arbeit zum Grundgesetz. Dabei nähert er sich dem Postgeheimnis auf zwei Ebenen: Inhaltlich setzt er sich mit der neuen Form der „Post“, also dem

Austausch von Nachrichten zwischen Menschen, auseinander und dekliniert die Idee eines Postgeheimnisses anhand verschiedener Aspekte durch:

Das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis (Art. 10 GG) hält durch die medialen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte wie kaum ein anderes einem massiven Belastungstest stand. Der Schutz der Vertraulichkeit schriftlicher Mitteilungen steht im digitalen Zeitalter unter neuen Vorzeichen. Das komplexe Zusammenspiel des Grundgedankens des Schutzes der Bürger vor der Einflussnahme des Staates und der Schutz der Bürger durch den Staat vor den Bürgern selbst führt zu sich gegenseitig widerrufenden Zielen und Absichten. Teilweise persifliert die Idee des Datenschutzes die Schutzaufgaben der Exekutive. Andererseits unterwandert das Verhalten der Zivilgesellschaft den vereinbarten Konsens, der im Grundgesetz zum Ausdruck gebracht wird. Die Bedeutung des Artikels 10 macht zudem im digitalen Zeitalter nicht mehr an den Landesgrenzen halt. So nehmen europäische Gesetzesinitiativen Einfluss auf nationale Bedingungen und umgekehrt. (V.L.)

Um die vielen verschiedenen Aspekte zusammenzufügen, greift er formal auf eine Collage aneinanderpassender Formen zurück, die wie ein Puzzle ein großes Ganzes ergeben. Grundlage seiner Gestaltung ist die sogenannte Einstein-Kachel, eine polygonale geometrische Form, die erst seit kurzem existiert und die Lösung eines mathematischen Rätsels darstellt. Das Wissenschaftsjournal Spektrum beschrieb die Aufgabe, die damit gelöst wurde, so: „Einen Boden mit einem kreativen Fliesenmuster zu pflastern, ist nicht nur eine anstrengende Aufgabe für Handwerkerinnen und Handwerker – tatsächlich zählt das zu den schwersten Problemen der Mathematik. Seit Jahrzehnten beschäftigen sich Fachleute damit, welche Kachelformen eine Ebene lückenlos bedecken können. Aus mathematischer Sicht sind vor allem jene Parkettierungen spannend, die nicht periodisch sind, deren Muster sich also niemals regelmäßig wiederholen. Bisher brauchte man dafür immer mehrere unterschiedlich geformte Kacheln. Seit etlichen Jahrzehnten suchten Mathematiker und Mathematikerinnen eine Einstein-Kachel (benannt nach ‚ein Stein‘, nicht nach dem Physiker), die allein schon Muster hervorruft, die sich niemals regelmäßig wiederholen. Viele hatten die Hoffnung darauf bereits aufgegeben.“21 

Dass Via Lewandowsky eine solche mathematische Neuentdeckung nutzt, verdeutlicht einen wichtigen Aspekt seiner Arbeitsweise. Er ist selbst ein Entdecker, dessen Neugierde ihn zu immer neuen Formen seiner Werke führt, viele davon sind mechanisch oder elektronisch beweglich. Oft arbeitet er mit Überraschungseffekten, die das Publikum seiner Ausstellungen und Werkpräsentationen nicht in museale Stimmung versetzen, sondern auf direktes Erleben und Erfahren, auch auf Reaktionen abzielen.

„Seine Leitmotive sind stets das Missverständnis als Folge des Scheiterns von Kommunikation sowie das Prozesshafte. Eine ironische Brechung des Alltäglichen, das Eindringen des Fremden in den vertrauten, meist häuslichen Bereich, geschieht oft durch die Verwendung von Insignien des deutschen Bürgertums (z.B. eine Kuckucksuhr oder ein Wellensittich). Seine Vorliebe für das Tragisch-Komische, das Absurde und Paradoxe sowie das Sisyphus-Motiv der ständigen Wiederholung und Vergeblichkeit des Handelns verbinden seine Kunst mit Dadaismus, Surrealismus und Fluxus.“22 

Seine Faszination an den Gegenständen des täglichen Lebens, Sprichwörtern und Metaphern, technischen Neuentwicklungen und religiösen Überlieferungen führte ihn zu einer multimedialen Praxis. Die Form seiner Kunstwerke richtet sich nach den Inhalten und nicht danach, wie er „gewöhnlich“ arbeitet. Die Entwicklung der Einstein-Kachel war insofern ein glücklicher Umstand, denn sie diente ihm dazu, unterschiedlichste Aspekte des durch ihn behandelten Postgeheimnisses zu zeigen:

Die sogenannte Einstein-Kachel dient als Rahmung für die Aneinanderreihung sehr unterschiedlicher Themen, Fakten und assoziativer Bilder für die Beschreibung eines (sozialen, öffentlichen, gesellschaftlichen) Geflechts, in dem der Artikel 10 des Grundgesetzes heute verhandelt wird. Jede Kachel in diesem ästhetisch anspruchsvollen Bild ist ein Ausschnitt im Sinne einer Schnittmenge für das Verhältnis vom Gesetz zum Schutz der Zivilgesellschaft und dem Schutz individueller Rechte. Man kann grob vier Themen unterscheiden: Ökonomie, Medium, Gefühl und Geist. Die einzelnen Kacheln sind eine zufällige Auswahl aus vielfachen Möglichkeiten und betreffen z.B. Software für Kommunikation, Schriftzüge, Firmenlogos, abstrakte und subjektive Strukturen sowie Medieninhalte, die durch KI erzeugt werden. Alle Fliesen haben eine maximale Ausdehnung von 42 cm. Sie sind aus Zeichnungen, Begriffen und Bildern entstanden, die in eine reliefartige, skulpturale Form übertragen worden sind. Zusammen ergeben sie einen Flickenteppich, der auch an eine Weltkarte erinnert. Zwar haben alle Fliesen einen bestimmten Platz innerhalb des nichtperiodischen Rapports, sie können aber gänzlich anders zusammengestellt werden. Wenn EINS ZUM ANDERN kommt, bemerkt man, wie eine kleine Veränderung das Leben vieler beeinflussen kann. (V.L.)