Besuch

Harald Hauswald (Artikel 8 GG)

Audiodatei des Textes zu Harald Hauswald

Das Tor, 2024

Fünfteilige Fotografieinstallation, Schwarzweißfotografien 1983 und 22.12.1989, Panoramen 2022, 2023, 2024

 

Versammlungsfreiheit ist in der heutigen Zeit eine Selbstverständlichkeit. Gerade in Berlin, wo nahezu wöchentlich Demonstrationen und Kundgebungen stattfinden, gehört das lautstarke Sichgehörverschaffen zum Alltag. Versammlungsfreiheit ist ein grundlegendes Recht jeder demokratischen Gesellschaft, sie ist ein Instrument der Meinungsfreiheit, weil es Bürgerinnen und Bürgern ermöglicht, ihre Interessen, ihren Unmut und ihre Überzeugungen öffentlich und kollektiv zu äußern. Sie ist ein wichtiger Bestandteil der politischen Willensbildung.

Die Geschichte der Bundesrepublik, deren Grundgesetz dieses Grundrecht garantiert, kann auch als Geschichte der Versammlungsfreiheit gelesen werden, denn große gesellschaftliche Umbrüche folgten meist dem Druck, der von Demonstranten auf der Straße aufgebaut wurde. Dazu zählen die Studentenproteste der 1968er Jahre, in denen deutschlandweit Studierende auf die Straßen gingen, um ein Ende des Vietnam-Krieges, die Abschaffung autoritärer Strukturen und die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit zu fordern. Die Friedensbewegung in den 1980er Jahren demonstrierte gegen die Stationierung von Atomwaffen in der Bundesrepublik, und die Anti-Atomkraft-Bewegung kämpfte seit den 1970er Jahren gegen die Nutzung von Atomenergie. Die Umweltbewegung, die mit zahlreichen Demonstrationen, Kundgebungen und Besetzungen von der Versammlungsfreiheit Gebrauch machte, gipfelte in der Gründung der Partei Die Grünen und wurde vor wenigen Jahren zu einer republikweiten Protestwelle Jugendlicher, die unter dem Namen „Fridays for Future“ auf die Straßen gingen Versammlungsfreiheit in die Verfassung aufgenommen. Allerdings war dieses Recht an die „Grundsätze und Ziele der Verfassung“ gebunden, was bedeutete, dass nur Versammlungen erlaubt waren, die sich nicht gegen den Staat richteten. Dass dies ernst gemeint war, wurde spätestens beim Volksaufstand am 17. Juni 1953 deutlich. Der Aufstand, der als Protest von Bauarbeitern begann, die sich gegen immer härtere Arbeitsvorgaben wehrten, verbreitete sich in kürzester Zeit in vielen Städten und Gemeinden, wo sich neben Arbeitenden auch Studierende, Handwerkerinnen und Handwerker und Intellektuelle anschlossen. Dass der Aufstand durch die Volkspolizei mit-hilfe sowjetischer Panzertruppen blutig niedergeschlagen wurde, blieb der Bevölkerung über Generationen im Gedächtnis.19 Trotzdem formierte sich Widerstand, deren mutigste Protagonisten diesen öffentlich in Demonstrationen oder in illegal gedruckten Zeitschriften und Aufrufen kundtaten und dafür Inhaftierung in Kauf nahmen. Diese Proteste gingen über Einzelne weit hinaus. Parallel zur Friedensbewegung in der Bundesrepublik formierten sich auch in der DDR Gruppen, die sich für Frieden, Menschenrechte und Umweltschutz einsetzten. Ihre Aktivitäten wurden als „staatsfeindliche Hetze“ eingestuft und führten zu Verurteilung und Haft unter schwersten Bedingungen. Auch der als Friedliche Revolution in die Geschichte eingegangene Sturz der Regierung begann mit ungenehmigten Demonstrationen, die sich von Plauen und Leipzig aus in der ganzen Republik wie ein Lauffeuer verbreiteten.

Harald Hauswald ist einer jener Künstler, deren Aufnahmen von den Demonstrationen 1989 in Ost-Berlin um die Welt gingen und die Vorstellung davon, wie der Sturz der Regierung durch die eigene Bevölkerung vonstattenging, weltweit prägten. Hauswald hatte schon viele Jahre zuvor damit begonnen, das Leben in seiner Wahlheimat Ost-Berlin zu dokumentieren und dabei nicht die Errungenschaften, derer sich der sozialistische Staat rühmte, sondern den Alltag der Menschen abgebildet. 250.000 Bilder umfasst das Œuvre des Fotografen, in deren Zusammenschau sich ein leises, manchmal absurdes, oft heiteres Bild vom Leben jenseits der Mauer herstellt. Hauswald war nicht der einzige Fotograf, der auf diese Weise in der DDR arbeitete, aber ein besonderer – ein Underdog, der in Ost-Berliner Künstlerkreisen vernetzt und selbst Teil oppositioneller Gruppen war, mit seiner Fotografie aber kaum öffentlich in Erscheinung trat. 

Hauswald fotografierte Alte und Junge, Punks und Paare, Straßenbahnfahrende und Wartende, vor Geschäften Anstehende und Feiernde, Fußballfans und Fußballer, ab Mitte der 1980er Jahre immer mehr oppositionelle Schriftstellerinnen und Schriftsteller, Künstlerinnen und Künstler sowie Friedensaktivistinnen und Friedensaktivisten. Seine Fotografien zeigten Alltag und waren Alltag – eine nicht abgeschlossene, andauernd fortgeschriebene Dokumentation in Schwarzweiß, die eine besondere Nähe zu den Fotografierten ermöglichte. Diese besondere Qualität wurde auch in der Bundesrepublik geschätzt. Die Westberliner taz, die Zitty und später die Zeitschrift GEO wurden auf Hauswalds Fotografien aufmerksam und veröffentlichten seine Bilder unter Pseudonym, um den nicht von staatlicher Seite genehmigten Abdruck zum Schutz des Fotografen zu kaschieren.

Der Staatssicherheit blieb dies trotzdem nicht verborgen, Hauswald galt als potenzieller Staatsfeind und stand seit 1977 unter Überwachung. Sein Vorgang trug den Decknamen „Radfahrer“ und umfasste zum Ende der DDR mehr als 1500 Seiten. 1985 wurde ein Haftbefehl ausgestellt, der mit staatsfeindlicher Hetze„ und “Agententätigkeit„ begründet wurde. Der verbotene Kontakt zu den westlichen Medien, der einer der Hauptgründe für die Überwachung war, schützte ihn jedoch gleichzeitig vor der Inhaftierung – sie wurde von der Staatssicherheit selbst als “aus politischen Gründen nicht ratsam„ beurteilt. Man fürchtete, dass seine Inhaftierung sofort in allen Medien der Bundesrepublik verbreitet werden würde.

Für seine Arbeit zu Artikel 8 GG nahm Hauswald zwei Fotografien aus DDR-Zeiten zum Ausgangspunkt. Die eine zeigt zwei Paare und eine junge Familie an der Absperrung vor dem Brandenburger Tor. Alle lehnen lässig an den Gittern und sind in Gespräche vertieft, nichts weist darauf hin, dass vor der Absperrung der Todesstreifen verläuft, wo Schießbefehl galt.

Die andere Fotografie zeigt jenen Moment, als das Brandenburger Tor am 22. Dezember 1989 zum ersten Mal als Durchlass nach Westberlin geöffnet wird. Der eigentliche Mauerfall hatte bereits am 9. November stattgefunden, dieses Tor aber wurde in einem feierlichen und symbolträchtigen Akt durch Bundeskanzler Helmut Kohl und DDR-Ministerpräsident Hans Modrow geöffnet. Hauswald war zugegen und zeigt den Moment, in dem die Berliner loslaufen, um nach Westberlin durchgelassen zu werden. Beide Schwarzweißfotografien wurden in zahlreichen Ausstellungen gezeigt und mannigfach publiziert. Für das Grundgesetzprojekt wurden sie zum Ausgangspunkt für drei fotografische Panoramen. Es sind Momentaufnahmen der Love-Parade-Nachfolgerin “rave the planet„ 2022 und zweier großer Demonstrationen, die 2023 und 2024 auf der Straße des 17. Juni stattfanden. Genau wie die frühen Schwarzweißbilder aus DDR-Zeiten haben sie das Brandenburger Tor zum Bezugspunkt, wurden diesmal aber von der Westseite aus fotografiert, denn die Kundgebungen zu den Demonstrationen finden vom Berliner Osten aus gesehen jenseits des Brandenburger Tores statt. Hauswald erklärte dazu:

Solche Demonstrationen waren für uns bis zum Niedergang der DDR undenkbar. Das Brandenburger Tor ist für mich das Symbol für den Begriff Freiheit schlechthin, nicht nur in Bezug auf die Versammlungsfreiheit. Ich erinnere mich daran, dass in unserem Schulbuch ein Bild zum Bau der Mauer am 13. August 1961 am Brandenburger Tor abgebildet war und ich den Staatsbürgerkundelehrer fragte, warum die bewaffneten Mitglieder der Kampfgruppe mit dem Rücken zum Brandenburger Tor also zum Klassenfeind stehen würden. Der Lehrer ignorierte meine Frage und antwortete lakonisch, dass wir nunmehr zu den Hausaufgaben kommen würden. Dieses Erlebnis hat mich geprägt, zeigte es doch, welche Diskrepanz zwischen der offiziellen Darstellung und dem wirklichen Leben in der DDR bestand. (...) Als ich in Ost-Berlin lebte, war unsere Welt am Brandenburger Tor zu Ende und weit dahinter begann eine andere Welt, so etwas wie ein großer Sehnsuchtsort für uns. Mit dem Mauerfall wurde dann plötzlich alles möglich und das Bild vom Brandenburger Tor und der dahinterliegenden Mauer, die von den Menschen gestürmt wurde, ging um die Welt als Symbol für die friedlich erkämpfte Freiheit der Bevölkerung im Osten. (H.H.)