Besuch

Tobias Zielony (Artikel 7 GG)

[in Zusammenarbeit mit Nick]

Audiodatei des Textes zu Tobias Zielony

o.T., 2025

Vier fotografiebasierte Collagen, Mixed Media, in unterschiedlichen Formaten

Unter den Grundrechtsartikeln ist Artikel 7 GG möglicherweise der unscheinbarste. Bildung ist Ländersache und dementsprechend auch Gegenstand der Ländergesetzgebung. Dass der Parlamentarische Rat trotzdem an so zentraler Stelle einen Artikel zum Schulwesen ins Grundgesetz aufnahm, lag auch daran, dass sich in dieser Frage die Auseinandersetzung um die Grundwerte der Bundesrepublik Deutschland spiegelte. Die Bedeutung der Verhandlungen wird auch in diesem Fall durch die Redner deutlich. Die führenden Köpfe der Parteien, darunter Konrad Adenauer und Willy Brandt, spätere Bundeskanzler, und Theodor Heuss, später der erste Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland, sprachen und stritten zum Thema. Verhandelt wurden dabei grundsätzliche Richtungsentscheidungen zum Einfluss von Kirchen und anderen Religionsgemeinschaften auf das Schulwesen, die Vereinbarkeit einer staatlichen Kontrolle mit der gleichzeitigen Bildungsfreiheit, vor allem aber die zugrundeliegende Frage, welche Werte und Ideale in den Schulen vermittelt werden sollten und wie diese mit den pluralistischen Ansprüchen der neuen Gesellschaft in Einklang zu bringen seien. Auch die Frage, inwiefern verschiedene Schularten außerhalb der staatlichen Schulstruktur zugelassen, gefördert oder reguliert werden sollten, spielte eine Rolle.

Am Ende einigten sich die Parteien auf einen Artikel, der mehr oder weniger alle Vorstellungen berücksichtigt und dabei sowohl Grundsätzliches als auch Konkretes festlegt: Der Artikel beschreibt eine staatliche Aufsicht über das Bildungswesen, um eine einheitliche und demokratische Bildung zu gewährleisten, bestätigt das föderalistische Modell, das den Ländern alle Freiheiten, aber auch die Hauptverantwortung für die Gestaltung der Lehrpläne, Schulformen und Curricula zuspricht, macht Religionsunterricht zum Teil des Lehrplanes, überlässt die Entscheidung über die Teilnahme aber den Eltern, ermöglicht private Schulen, behält sich aber deren Prüfung und Genehmigung vor.

Schule gehört zu jenen Themen, deren Aktualität im öffentlichen Diskurs nie nachzulassen scheint. Lehrermangel, marode Schulgebäude, der Umgang mit sozialen Medien, neue, der modernen Welt angepasste Unterrichtsfächer, Hausaufgabenpflichten und andere Schlagwörter der letzten Jahre sind dabei nur die Spitze eines Eisbergs. Schule ist ein zentraler Lebensbereich, der alle Menschen in einem bestimmten Lebensalter selbst oder durch Familie und Freunde auch mittelbar betrifft. Schule ist eine entscheidende – vielleicht die entscheidende – Institution für Persönlichkeitsbildung im Kinder- und Jugendalter und bedeutet für jeden Menschen prägende soziale Erfahrungen. In diesem System erfolgreich oder erfolglos, integriert oder außenstehend zu sein, ist für viele Menschen mindestens ebenso prägend, wie das Zusammenleben in der Familie. Schule ist ein entscheidender sozialer Raum, in dem persönliche Entwicklung unter permanenter Beobachtung und Bewertung stattfindet, ohne dass die Dynamiken vom Einzelnen wirklich beeinflussbar sind.

Tobias Zielony wurde mit Beobachtungen Jugendlicher international berühmt. Bereits während seines Studiums dokumentierte er jugendliche Subkulturen in Newport. Seine Abschlussarbeit Curfew [Sperrstunde] zeigt das Leben Jugendlicher in Bristol. Zielony konzentrierte sich dabei wie in allen nachfolgenden Serien auch auf das Leben junger Erwachsener in den Vorstädten am Rande der Wohlstandsgesellschaft. Dafür reiste er in Deutschland, nach England und Kanada, in die Ukraine, nach Japan und in andere Länder. Bei seinen Beobachtungen interessierten ihn „[...] weniger die Dokumentation der Lebensverhältnisse als vielmehr die Darstellung des Auftretens der Jugendlichen im öffentlichen Raum.“

Er beobachtete soziale Codes, Selbstinszenierungen, die Inbesitznahme städtischer Räume, auch latente und offene Gewalt oder enge soziale Bindungen – und zeigte damit selten das Erwartete, jedenfalls keine Erfolgsgeschichten von Menschen, die an der Schwelle zum Erwachsenwerden im klassischen Sinne in ein verheißungsvolles Leben aufbrechen.

Seine Arbeiten sind dabei von einer faszinierenden Nähe zu den Porträtierten geprägt. Aus allen seinen Serien spricht Vertrautheit zwischen Fotograf und Fotografierten, fast immer vermitteln seine Aufnahmen den Betrachtenden das Gefühl, an vertraulichen, nicht für die Kamera gestellten Situationen teilhaben zu können.

Ähnlich gilt das für seine Arbeit zu Artikel 7 GG. Zielony arbeitete dafür mit dem Jugendlichen Nick zusammen, der den regulären Schulbetrieb verließ und damit auch außerhalb des von Artikel 7 GG geregelten Lebens steht. Ausgehend vom Porträt des Jugendlichen erarbeitete er mit ihm gemeinsam vier Collagen, in die Begriffe, Zeichen und Materialien einfließen, die allesamt eine Infragestellung des Systems Schule zu symbolisieren scheinen. Ein in einer Collage verarbeiteter Fragebogen aus der Psychiatrie, die Losungen „Eine Schule für alle“ oder „Leistung statt Bildung“ thematisieren Zweifel und Scheitern am System, während der Blick auf das Gesicht durch harte Schlaglichter verwehrt wird.

Ausgangspunkt für die vier Collagen waren Gespräche zwischen Zielony und dem inzwischen 16-jährigen Nick über die normierenden und ausschließenden Mechanismen des klassischen Schulsystems. Ganz bewusst thematisieren die Collagen eine Situation des Unverständnisses, des nicht genau Hinsehens auf der einen und des Sich-Versteckens auf der anderen Seite. Die Collagen sind kein Blick auf etwas, sondern werfen diesen Blick zurück, eröffnen Räume für Fragen, auf die es keine einfachen Antworten zu geben scheint.

Tobias

Kannst Du mir sagen, wie Dein Verhältnis zu Schule ist, was Dich am regulären Schulsystem stört? Also einerseits für dich persönlich, aber auch allgemein?

Nick

Ich habe ja ein paar Mal die Schule gewechselt, auch weil ich von Lehrern und Schülern sehr schlecht behandelt wurde und meine Ängste, die ich entwickelt habe, und meine Krise gar nicht ernst genommen wurden. Auch in meiner jetzigen Regelschule ist es so geblieben. Man ist halt nur ein Schüler einer riesigen Schule. Das System ist völlig unpersönlich, überhaupt nicht personenbezogen (...) Ich bin ja mehrmals – entschuldigt – für Wochen nicht zur Schule gegangen, weil es mir mit meinen sozialen Ängsten und Panikattacken so schlecht ging. Das Einzige, was von der Schule kam, war die Frage, wann ich denn bitte zurück sei, da noch drei Tests anstehen und dann gibt es Probleme mit dem Halbjahreszeugnis, weil ich dann durchfallen werde. Und wenn ich mich nicht bald mündlich beteiligen würde, bekomme ich eine Fünf. Obwohl meine Mutter erklärt hat, dass ich mich melden will, aber Herzrasen bekomme und Schweißausbrüche. Als nächstes kam die Aussage von meinem Klassenlehrer, vielleicht sei das Gymnasium ja nicht der richtige Ort. In der Klinik kam raus, dass ich hochintelligent bin. Daran kann es also nicht liegen. Alle fragen sich die ganze Zeit, warum so viele Jugendliche in der Krise sind. Aber wenn es so ist, dann ist es, als ob es gar nicht sein darf. (...) Um ehrlich zu sein, geht es vielen von meinen Freunden nicht gut, vor allem wegen der Schule.

Tobias

Könnte man sagen, die Schule schafft Probleme – aber wenn die dann da sind, dann werden sie einfach ignoriert?

Nick

Genau (...) Jeder Mensch ist anders, hat verschiedene Stärken und Schwächen, darauf wird aber gar kein Fokus gelegt. (...) Zum Beispiel kenne ich viele Leute, die in Kunst oder Sport riesig begabt sind, aber Kunst und Sport interessiert im Endeffekt niemand. (...) An einer Matheschwäche hadert dann der ganze Schulalltag, die ganzen Schuljahre. (...)

Ich habe mich so viel auf meine Noten begrenzt gefühlt. Solange ich gut dabei war, wurde ich ernst genommen, wahrgenommen. Und wenn ich dann mal Sachen nicht verstanden habe oder wenn ich irgendwo an meine Grenzen gestoßen bin, wurde ich ... wie kann man das genau sagen?

Tobias

... wurdest du als ganze Person in Frage gestellt?

Nick

Genau. Natürlich ist es nicht die Aufgabe der Schule, sich für jeden Schüler zu interessieren, aber es hat sich in der ganzen Zeit angefühlt wie so ein Tunnelblick.

Tobias

Fändest du es jetzt gut, von Schule völlig befreit zu ein oder suchst du eher nach alternativen Möglichkeiten weiter zu lernen oder einen Abschluss zu machen?

Nick

Ja, wir sind ja gerade noch dran. Demnächst habe ich ein Vorstellungsgespräch an einem College, da geht es um die eigene Motivation der Jugendlichen, etwas lernen zu wollen. Das wird einem ja ständig unterstellt, nichts lernen zu wollen, gar nicht selbst zu wollen, dass es besser wird. Mir wurde ständig unterstellt, desinteressiert und respektlos zu sein. Zum Beispiel, wenn ich im Unterricht gezeichnet habe. Die Lehrer waren so aggressiv und demütigend. Dabei war es ein coping skill (Bewältigungsstrategie) wegen meines ADHS. Alle wissen, dass die meisten Menschen auf einem Spektrum unterwegs sind, aber es wird null berücksichtigt.

Tobias

Auch wenn das Schulsystem sich nicht viel um die persönlichen Interessen und Probleme der Schülerinnen und Schüler kümmert, würdest Du sagen, es hat Erfolg damit, dass man lernt fleißig zu sein oder irgendwie mitzumachen in dem neoliberalen System? 

 

Nick

Gar nicht. Sieht man bei ganz vielen, die nicht klarkommen. Aber immer die Frage, heute sind so viele Jugendliche in der Krise, warum nur? (...) Schule sollte eigentlich auch generell einfach aufs Leben vorbereiten. Nicht nur, dass man lernt, irgendwie zu lernen und nur knapp die Kurve zu bekommen in all den Prüfungen, sondern lernen zu lernen (...) Irgendwann war ich so überfordert mit all dem Wissen und Schulstoff, der so schnell in meinen Kopf musste, dass ich einfach überhaupt nicht mehr wusste, wohin mit mir.

Tobias

Gibt es denn Fächer, die dich eigentlich interessieren?

Nick

Also von Geschichte bin ich ein Riesenfan. Politik

hat mich auch sehr interessiert, Kunst sowieso.

Sport hat mich eigentlich auch interessiert,

aber diese Competition war so brutal.

Also in einer Sportprüfung, da wirst du ja vor die ganze Klasse gestellt und musst es einzeln vormachen. Und das ist so degradierend teilweise. Ich meine, man kann ja nicht erwarten, dass eine 1,40 m große Person so hoch springt wie eine 1,80 m große Person.

Tobias

Wenn du jetzt an diese Poster denkst, die wir gemacht haben, drücken die irgendwas aus von diesen Problematiken? Zum Beispiel der Slogan: Schule für alle!

Nick

Ja, Schule für alle. Ich glaube, Schule sollte so schaffbar sein, dass jeder seine Schulabschlüsse bekommen kann und an sich glaubt, wenn er damit fertig ist.

Das kennen viele Leute, die abgebrochen haben, weil das System so ... kaputt ist. Sorry, mir fallen keine Wörter mehr ein, die das mehr fancy beschreiben können.

Tobias

Denkst du, dass du jetzt schon einen Schritt weiter bist? Denkst Du, ich mache jetzt irgendwie so eine Prüfung und dann überlege ich mir, was ich Neues machen möchte?

Nick

Ja, ich finde, ich bin viel weiter. Aber all das war mein persönlicher Verdienst, etwas, das ich mir selber erarbeiten musste. Ich habe ja jetzt auch endlich spezifische Themen für mich gefunden, die mich interessieren, wofür ich auch in der Schule gar keine Zeit hatte (...) Was mich jetzt beruflich interessiert, ist vor allem Handwerk. Und ich würde wahrscheinlich auch gerne so was Soziales machen, in so ein Ersatzschulprojekt gehen und dann Kindern etwas beibringen (...) Aber im regulären Schulsystem, da erwischt man mich nicht mehr.

Niemand sagt einem, dass man es anders machen kann oder könnte, dass es auch anders geht (...) Als ich lange aus der Schule weg war, als ich aus der Klinik kam, dachte ich, es ist vorbei jetzt. Ich war jetzt anderthalb Monate nicht in der Schule, jetzt ist es vorbei, jetzt lande ich auf der Straße. Ich dachte, ich schaffe es jetzt nie wieder mich im System richtig wieder einzubringen, wobei es ja letztendlich das System war, das mich überhaupt erst in diese Lage gebracht hat. Aber es gibt so viele Möglichkeiten, davon erzählt Dir aber natürlich niemand. Der Schuldirektor geht jetzt nicht rum und verteilt Flyer: hier könnte man übrigens auch hingehen. Aber ich finde genau das bräuchte es so dringend. Aufklärung.