Kubra Khademi (Artikel 5 GG)
Audiodatei des Textes zu Kubra Khademi
Artikel 5, 2024
Gouache und Blattgold auf Papier, 204,5×125×4,5 cm
Courtesy Galerie Anita Beckers Frankfurt und Galerie Eric Mouchet Paris Foto: DBT/J.F. Müller
Seit ihrer Kindheit in Afghanistan war Kubra Khademi mit Gewalt gegen Frauen konfrontiert. Oft wurde sie in der Öffentlichkeit von Männern belästigt. Für eine französische Zeitung beschrieb sie diese Erfahrung rückblickend: Wir leb(t)en in einer patriarchalen Gesellschaft, in der Frauen als Bürger zweiter Klasse betrachtet werden. Wenn wir uns bei Männern beschweren, sagen sie uns in der Regel, dass niemand sie angreift, wenn eine Frau ein Kopftuch trägt. Aber das stimmt natürlich nicht, denn auch Frauen in Burkas werden belästigt. Ich denke, dass die Herrschaft der Taliban und der anschließende Krieg unsere Werte und unsere Kultur zerstört haben. Der Anstieg des Extremismus und der Gewalt haben zu Frustrationen geführt, die heute diese abweichenden Verhaltensweisen erklären. Frauen müssen die Mauer des Schweigens durchbrechen, so oft wie möglich über das Problem sprechen und Druck auf die Behörden ausüben, damit sie reagieren. Wenn ich schweige, wird eines Tages auch meine Tochter belästigt und ihre Tochter ebenfalls. Meine Generation muss diesen Teufelskreis durchbrechen.15
Kubra Khademi ist diese neue Generation. Ihr Thema ist die Schönheit der Frauen. Und die Gewalt, die ihnen angetan wird. Mit dem Zeichnen begann Khademi schon als Kind. Dem französischen Nachrichtenportal france24 berichtete sie, dass ihre Mutter sie und ihre Schwestern einmal zum wöchentlichen Besuch im Hammam mitnahm. Dabei sei sie sich der Schönheit der Körper um sie herum bewusst geworden:
Ich war sprachlos, als meine Mutter mir den Rücken massierte. Normalerweise hatte ich Schmerzen, bis ich weinte. Aber dann spürte ich gar nichts mehr. Ich sah mir diese nackten Frauen in ihrer ganzen Schönheit an. Von diesem Moment an zeichnete Khademi zu Hause das Gesehene: Ich begann nackte Frauen zu zeichnen – ohne dass mir bewusst war, damit etwas Verbotenes zu tun. Ich denke, wir alle haben tief in uns ein Gefühl für die Sinnlichkeit, die Kräfte, die Sexualität und die Verletzlichkeit von Frauen. (K.K.)
In Afghanistan wird der weibliche Körper tabuisiert und gilt als unanständig, Aktdarstellungen sind verboten. Kubra Khademis Selbstbewusstsein, sich diesen Verboten zu widersetzen, hat auch mit ihrer Herkunft zu tun. Sie ist Angehörige der Hazara, einer persischsprachigen, schiitischen Ethnie, die über viele Jahrhunderte immer wieder Verfolgung, Zerstörung und Massakern ausgesetzt war. „Zwar sind die Hazara sowohl in Afghanistan als auch in Pakistan [und im Iran, Anm. d.A.] eine marginalisierte Bevölkerungsgruppe, doch zeichnen sie sich durch Resilienz und kulturelle Geschlossenheit aus. Ihre überlieferten Erzählungen preisen Heldenmut und Tapferkeit, das Alltagsleben ist durch besondere Traditionen in Musik, Dichtung und Handwerkskunst geprägt. Frauen spielen im Rahmen der patriarchalischen Sozialstruktur eine wichtige Rolle bei Entscheidungen innerhalb der Familie.“16
Als junge Erwachsene begann Khademi Kunst zu studieren und entwickelte an der Universität künstlerische Strategien, die Konflikte, die sie zwischen weiblicher Schönheit und männlicher Gewalt wahrnahm, zu zeigen. Am 26. Februar 2015 veranstaltete sie in einem belebten Vorort unweit der Universität Kabul eine öffentliche Performance. Sie trug Alltagskleidung, hatte sich am Oberkörper aber einen Metallpanzer angelegt, der den nackten Oberkörper einer Frau nachbildete. Das Video der Performance zeigt, dass sie für diesen kurzen Weg durch die Straße verspottet, beschimpft, angeschrien und mit Steinen beworfen wurde. Die gewaltvolle Reaktion kam nicht unerwartet. Khademi hatte die Konfrontation einkalkuliert, denn die Videodokumentation zeigte auf diese Weise nicht nur die Kunst, sondern zum ersten Mal auch den politischen Kontext, auf den sie reagierte. Videoaufnahmen der Performance verbreiteten sich aber auch unabhängig von ihr über die sozialen Medien – begleitet von Schmähungen, Verurteilungen und Beschimpfungen, an denen sich immer mehr Nachbarinnen und Nachbarn, Intellektuelle, Politikerinnen und Politiker und bald die allgemeine Öffentlichkeit beteiligten. Als die Taliban am folgenden Tag Todesdrohungen gegen Khademi verbreiteten, tauchte sie unter, denn die Situation war außer Kontrolle geraten. Mit Hilfe der UNESCO und des französischen Kulturministeriums gelang ihr die Flucht nach Frankreich, wo ihr politisches Asyl gewährt wurde.
Seitdem gilt Khademi als Tabubrecherin – nicht nur in ihrem Heimatland. Viele ihrer schönen, an den Stil der persischen Miniaturmalerei erinnernden Zeichnungen zeigen nackte Frauen einzeln und in Gruppen, in Adaptionen bekannter Gemälde, manchmal in märchenhaften Szenen, oft in Gleichnissen, die auf bekannte Motive der Kunstgeschichte anspielen, aber auch männliche und weibliche Geschlechtsteile, menstruierende Frauen, Sexszenen und Verletzungen, die aus sexualisierter Gewalt entstehen. Diese radikale Freiheit, die sie sich in ihrer Kunst entgegen aller Konventionen nimmt, wird oft als Provokation verstanden – und zeigt doch nur die nicht von Regeln verdeckte, ungeschönte, widersprüchliche, zu oft grausame Realität, deren Darstellung vor allem in Bezug auf Frauen an vielen Orten der Welt so stark reglementiert ist, dass sie mit der Wirklichkeit kaum etwas zu tun hat. Es sind politische Körper – wie der Katalog zu ihrer ersten Einzelausstellung in Europa passenderweise betitelt wurde.
Regeln und Tabus sind das Gegenteil von Freiheit. Artikel 5 des Grundgesetzes garantiert diese unmissverständlich Jedermann, seine Meinung zu äußern, für die Kunst, die Wissenschaft, die Forschung, die Presse. Auch dieser Artikel war für den Parlamentarischen Rat von zentraler Bedeutung, denn die Abschaffung der Kunstfreiheit und die aktive Reglementierung von Museen, die Einschüchterung von Künstlerinnen und Künstlern bereits im Jahr der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 war eines der ersten Zeichen für den kommenden menschenverachtenden Irrsinn, der Millionen Menschen das Leben kostete: Die Bücherverbrennungen, die im Januar 1933 auf dem Bebelplatz begannen und in ganz Deutschland abgehalten wurden, die „Säuberung“ der Museen von Kunstwerken, die gesellschaftskritisch waren oder nicht dem Menschenbild eines „gesunden Volkskörpers“ entsprachen, die nachfolgenden Ausstellungen sogenannter entarteter Kunst und der Bann von kritischen Theaterstücken. Alle diese Verbote waren der Anfang einer radikalen Indienstnahme von Kunst, die von nun an der Verherrlichung der nationalsozialistischen Ideologie und der Propagierung eines makellosen Menschen diente, der sein Leben in den Dienst der Ideologie stellte. Und es war der Anfang eines Feldzuges gegen alle, die sich ihr nicht unterwarfen.
Für die deutsche Kunstgeschichte der Nachkriegszeit war diese Erfahrung prägend – in den beiden deutschen Staaten allerdings auf unterschiedliche Weise. Während sich Künstlerinnen und Künstler in der Bundesrepublik mit Blick auf Kunst und Kunstpolitik des Nationalsozialismus der abstrakten, also nicht gegenständlichen, nicht figürlichen, nicht erzählenden – und damit nicht so leicht missbrauchbaren – Kunst verschrieben, suchte man in der DDR in der Kunst nach dem neuen Menschen und dem neuen Leben in einer sozialistischen Gesellschaft. Die Absetzung vom Nationalsozialismus fand auch in der inhaltlichen Auseinandersetzung statt, allerdings sahen sich die Künstlerinnen und Künstler hier mit einer neuen Art der Kontrolle und Indienstnahme konfrontiert. Mit der Wiedervereinigung begann trotz aller Euphorie deshalb gerade in der Kunst eine öffentliche Debatte, die als „deutschdeutscher Bilderstreit“ in die Geschichte einging – und im Kern nichts anderes zum Thema hatte als die Freiheit der Kunst. 35 Jahre nach der Wiedervereinigung ist dieser Streit selbst zur Geschichte geworden, unterschiedliche konzeptionelle Ansätze, Stile und Erzählformen sind Ausdruck einer international anerkannten, diversen Kunstlandschaft Deutschlands und zu einem Zeichen für Freiheit geworden.
Kubra Khademis Biografie zeigt, dass es in anderen Teilen der Welt lebensbedrohlich sein kann, diese Freiheit in Anspruch zu nehmen. Für ihr Werk zu Artikel 5 GG zeichnete sie ein überlebensgroßes Selbstporträt. Es zeigt eine nackte Frau, die ungeschützt den Blicken ihrer Betrachtenden ausgesetzt ist – schön und unverletzt, aber auch überdeutlich in den Details. Unter ihr schimmert ein Kothaufen – ein Tabubruch auch in der deutschen Kunst und ein großer Gegensatz zur verletzlichen Schönheit des nackten Körpers. Die Konfrontation, die durch den Gegensatz zwischen Schönheit und Abscheu entsteht, ist, was Khademi mit großer Entschiedenheit sucht:
Die Freiheit der Meinungsäußerung, auch bekannt als Meinungsfreiheit, ist das Recht des Einzelnen, seine Gedanken, Ideen, Überzeugungen und Meinungen ohne Zensur oder Einmischung der Regierung oder anderer Behörden zu äußern. Es umfasst verschiedene Formen der Meinungsäußerung, darunter Sprache, Schreiben, Kunst und andere Formen der Kommunikation. Dieses Grundrecht ist für die Förderung eines offenen Diskurses, demokratischer Gesellschaften und des Gedankenaustauschs von wesentlicher Bedeutung. Wird dieses Grundrecht der Freiheit der Meinungsäußerung von Einzelpersonen gewährt oder eher in Anspruch genommen? Wer hat die Befugnis, ein Grundrecht zu gewähren? Wer hat die Befugnis, es zu entziehen? Für mich ist das Recht auf freie Meinungsäußerung nicht nur ein Recht, sondern ein ständiger Kampf – eine Macht, die nicht gegeben, sondern ergriffen wird. Sowohl in demokratischen als auch in autoritären Regimen diktiert der Kontext der Meinungsäußerung, insbesondere bei Themen, die als sensibel eingestuft werden, deren Grenzen. Mehr extreme Macht führt zu stärkerem, furchtlosem Widerstand der Massen. In Afghanistan wie auch in anderen autoritären Gesellschaften manifestiert sich dieser Widerstand in radikalen, oft informellen Formen der Meinungsäußerung, insbesondere bei marginalisierten oder machtlosen Gruppen. In diesem Selbstporträt zeige ich eine Frau, die allein, nackt und würdevoll dem Betrachter gegenübersteht. Diese Frau, die gerade den unerwarteten und transgressiven Akt vollzogen hat, einen Teil ihrer selbst zu ihren Füßen auszustoßen, verkörpert einen Akt des Trotzes und der gewaltlosen Macht. Diese rohe und kompromisslose Szene stellt einen Akt des Widerstands dar und erinnert uns daran, dass, je stärker die Unterdrückung ist, desto freier, kühner und sogar respektloser muss der Ausdruck werden. Auf diese Weise wird das Werk zu einer Reflexion über den Mut und die Widerstandsfähigkeit jedes Einzelnen, sich selbst auszudrücken, selbst im Angesicht der Zensur. (K.K.)