Ilit Azoulay (Artikel 4 GG)
Audiodatei des Textes zu Ilit Azoulay
Chronicles of Fluid Boundaries [Chronik der fließenden Grenzen], 2023
Archivtintendruck mit Holz- und Metallrahmen, 129×145cm
Courtesy Lohaus Sominsky, München / Braverman Gallery, Tel Aviv
Als 1949 die Grundrechte der Deutschen festgeschrieben wurden, sollte auch die Religion eine zentrale Rolle spielen. Als traditionell christliches Land, dessen Bevölkerung als Kulturgemeinschaft mehrheitlich auf fast zweitausend Jahre zurückblicken kann, in denen das Christentum zum festen Bestandteil der deutschen Identität geworden war, gilt Artikel 4 des Grundgesetzes seit 1949 aber nicht nur dem Schutz der christlichen Religion, sondern garantiert allen Menschen die „Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses“.
Heute ist die religiöse Vielfalt in Deutschland um ein Vielfaches größer als 1949. Mindestens 108 eingetragene Glaubensgemeinschaften werden in Deutschland verzeichnet – davon große mit mehreren Millionen Mitgliedern, wie die beiden christlichen Hauptkirchen, und kleine religiöse Gruppen, wie die Quäker und die Zarathustristen, deren Gemeinden nur wenige hundert Anhängerinnen und Anhänger zählen. Allen wird in Artikel 4 GG Glaubens- und Bekenntnisfreiheit gewährt.
Die seit vielen Jahren in Berlin lebende Künstlerin Ilit Azoulay, die in Israel aufgewachsen ist, weiß um die Macht der Religion – um ihre Potenziale, die im Glauben an die universellen Werte von Menschlichkeit Brücken schlagen und Kulturen vereinen können, und um die Gefahr, die in der Abgrenzung voneinander, im Anspruch auf den einzig wahren Gott und auf territorialen Forderungen, die aus religiösen Überlieferungen basieren, lauert.
In ihrer digitalen Fotocollage „Chronik der fließenden Grenzen“ greift Azoulay auf Objekte zurück, die sie im Rahmen einer Recherche im Israelmuseum gefunden hatte, und kombiniert sie zu einer komplexen Erzählung über Religion(en). Ausgangspunkt ihrer Bilderzählung ist eine kleine Archivkiste, in der unscheinbare Gefäße aufbewahrt werden. Sie wurden auf dem Staatsgebiet des heutigen Israels geborgen. Noch sind sie wissenschaftlich unbearbeitet und deshalb keiner Religion zugeschrieben, sie könnten also aus dem Islam, aus dem Judentum oder aus dem Christentum stammen, denn jede dieser Religionsgemeinschaften unterhält im „Heiligen Land“ seit Jahrhunderten Glaubensgemeinschaften. Sicher ist nur, dass die Gefäße für religiöse Riten genutzt wurden. Da sie noch anonym in einer Kiste auf eine Zuschreibung warten, können sie aber noch von keiner Religion beansprucht und als Zeugen für vergangene Zeiten verstanden oder für Ansprüche genutzt werden. Azoulay erläuterte: Oben links liegt eine Sammlung von zeremoniellen Reliquien auf der Lauer, deren Geschichten noch von einem Experten enthüllt werden müssen. Diese Artefakte, die in der Enge einer Museumskiste festhängen, führen ein stilles Gespräch an der Schwelle zum Erwachen. Diese „Schwelle zum Erwachen“ beschreibt einen Moment der Unschuld und der Offenheit – ein Motiv, das sich bei weiteren Details der Komposition wiederfindet:
Ein Schnappschuss einer Busfahrt in Jerusalem zieht sich durch das Werk, worin die Passagiere sinnbildlich für das Werk stehen. Ihre gemeinsame Reise in diesem Bus spiegelt das Zusammentreffen unterschiedlicher Wege und Erzählungen in einer einzigartigen und doch geteilten Landschaft wider. (I.A.)
Auf einem Foto, das aus den 1950er Jahren stammen könnte, sind viele verschiedene Menschen zu sehen: junge und alte, Männer, Frauen, Kinder. Durch ihre Kleidung sind sie als Anhängerinnen und Anhänger verschiedener Religionen zu identifizieren – sie gehörten wohl verschiedenen jüdischen Glaubensrichtungen an oder waren Muslime. Für alle ist Jerusalem Heimat, genauso wie für Christinnen und Christen, deren wichtigste, aus den Anfängen des Christentums stammenden Kirchen hier zu finden sind. Hier im Bus sind alle auf dem Weg – vereint und getrennt zugleich, aber miteinander für ein kurzes Stück des Weges.
Jerusalem ist nicht nur der Schlüssel
zur Fotografie in Azoulays Arbeit:
Im Mittelpunkt steht eine Serie handgezeichneter Karten von Jerusalem, deren sich ständig verschiebende Grenzen ein Zeugnis des persönlichen Blickwinkels und der kulturellen Wurzeln des Kartographen sind. Diese veränderliche Geografie spricht für die Vergänglichkeit von Land und Vermächtnis. (I.A.)
Jerusalem, die Heilige Stadt, ist schon in den frühchristlichen Mosaiken ein Ort zwischen Himmel und Erde. Innerhalb der mächtigen Mauern, die bis heute die Altstadt umgeben, liegt die Wiege dreier großer Weltreligionen: Das Judentum, das Christentum und der Islam. Die handgezeichnete Karte, die Azoulay hier ins Bild holt, hat eine besondere Geschichte. Sie stammt aus dem 15. Jahrhundert und gilt als wertvolles Zeugnis der damaligen Stadt, in der sich die Grenzen der streng nach verschiedenen Glaubensrichtungen geteilten Viertel ständig verschoben. Ein auf Antiquitäten spezialisierter Krimineller entwendete Teile der Karte zunächst unbemerkt Blatt für Blatt mit dem Ziel, sie auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen. Um höhere Preise erzielen zu können, colorierte er die eigentlich nur mit schwarzer Farbe ausgeführte Karte. Die Farbe, die also von einem Betrugsversuch zeugt, ist nun über die gesamte Arbeit von Azoulay geführt, aber die Farbspuren sind nicht statisch, sondern in fließender Bewegung. Azoulay beschrieb es als „Mosaik des Kartografen: Linien in Bewegung.“
Neben diesen drei Hauptelementen finden sich weitere Gegenstände in Azoulays Komposition:
Die Anwesenheit einer afrikanischen Stammesmaske dient als Erdung, als Aufforderung, unser gemeinsames menschliches Gefüge über die individuellen Vorlieben zu stellen, und als Hinweis auf die dauerhafte Kraft von Geschichten, die uns verbinden. Schließlich steht ein Temperaturmesser als Metapher für den sorgfältigen Umgang mit den Auswirkungen der Zeit auf die organische Materie, eine Erinnerung an die ständige Spannung zwischen Bewahrung und dem unaufhaltsamen Lauf der Zeit. Zusammen ergeben diese Elemente einen visuellen Dialog über Bewegung und Stillstand, eine sich entfaltende Geschichte von Verbindung und Veränderung. (I.A.)
Es ist eine Vision religiöser Vielfalt und Freiheit, eine Idee, in der Offenheit und Veränderung stärker sind als das Festhalten und Beharren.
Basierend auf Artikel 4 des Grundgesetzes hält dieses Kunstwerk einen entscheidenden Moment fest, in dem sich die Kontrolle in die Möglichkeit eines neuen Paradigmas entfaltet. Tinte fließt über gesetzte Grenzen hinaus und lädt zu einer fließenden Interpretation der Realität ein, die von einem Teppich kollektiver Geschichten und gemeinsamer kultureller Fäden geprägt ist. Es deutet auf eine organischere, kollektive Entfaltung der Erzählung hin, in der Identität und Gemeinschaft ständig neu erfunden werden. (I.A.)