Tuli Mekondjo (Artikel 1 GG)
Audiodatei des Textes zu Tuli Mekondjo
Kwariri Nyoko Kevako: Echoes of the Matriarchs, 2024 Fünfteilige Fototransferarbeit auf Leinwand,
260×535 cm / 180 ×460 cm
Courtesy Hales Gallery, New York
and Guns & Rain, Johannesburg
Referenzobjekt: Ekori (Leihgabe des Weltkulturen Museums Frankfurt am Main)
Tuli Mekondjo wurde 1982 in Angola als Tochter namibischer Eltern geboren, die sich im Exil der Befreiungsbewegung SWAPO angeschlossen hatten. Sie verbrachte ihre frühe Kindheit in Exillagern in Angola und Sambia. Nach der Unabhängigkeit 1990 kehrte die Familie nach Namibia zurück. Durch den frühen Tod ihrer Eltern übernahm Tuli Mekondjo frühzeitig die Verantwortung für ihre Geschwister und verzichtete auf ein Studium.
In ihren künstlerischen Arbeiten konzentriert sich Tuli Mekondjo auf die Erinnerung und Aufarbeitung der deutsch-namibischen Kolonialgeschichte und wurde international mit Installationen, Werken und Performances bekannt, die auf Recherchen in privaten und öffentlichen Archiven basieren. Sie macht insbesondere die Erfahrungen von Frauen und Kindern sichtbar, deren Geschichten oft übersehen wurden – vor allem in den vor-herrschenden patriotischen Geschichten über den Unabhängigkeitskrieg, in denen Männer und Parteistrukturen im Mittelpunkt stehen. Tuli Mekondjo hat an Ausstellungen im Frac Nouvelle-Aquitaine MÉCA, Bordeaux (2020), Musée d’art et d’histoire Paul Eluard, Saint-Denis (2021), im Rautenstrauch-Joest-Museum, Köln (2022), am Haus der Kulturen der Welt, Berlin (2023), in der Fondation-H in Madagaskar (2024) und im Brandenburg Museum für Zukunft, Gegenwart und Geschichte (2025) teilgenommen. Sie war Teilnehmerin an Future Africa Visions in Time (2018), einer Kooperation zwischen der Bayreuth Academy of Advanced African Studies und dem Goethe-Institut Namibia. Sie war Stipendiatin des DAAD (2022) und der Villa Romana Florenz (2024). Ihr Werk war zudem 2024 auf der Dakar Biennale of Contemporary African Art sowie auf der Stellenbosch Triennale 2025 ausgestellt.
Tuli Mekondjo lebt in Windhoek (Namibia).
Seit der Antike beschäftigen sich Philosophen mit der Frage, was den Menschen von allen anderen Lebewesen unterscheidet. Der Begriff der dignitas [Würde] spielte dabei eine zentrale Rolle. Zunächst meinte er eine an die soziale und politische Stellung gebundene Eigenschaft, die nur bestimmten, gesellschaftlich herausgehobenen Personen zugesprochen wurde. Im Laufe der Jahrhunderte veränderte sich die Bedeutung des Begriffes zunehmend.3 Lange Zeit geläufig blieb, Würde als etwas durch hohe Geburt Vererbtes, durch Verdienste zu Erwerbendes oder durch Anerkennung Verliehenes zu verstehen. Einen anderen Ansatz brachte etwa Friedrich Schiller Jahrhunderte später in die Debatte. Er meinte, Würde sei „die Beherrschung der Triebe durch die moralische Kraft [der] Geistesfreiheit“. Erst der Philosoph Immanuel Kant prägte den Begriff, wie wir ihn heute noch kennen. Er definierte ihn in Unterscheidung zu Ehre, Ansehen, Rang und Verdienst als bedingungslosen, für jeden Menschen geltenden Wert: „Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde.“4 Kant sprach als erster allen Menschen unabhängig von Herkunft, Religion oder Stand die gleiche Würde zu, indem er den Wert des Menschen dem Wert von Dingen gegenüberstellt. Während letzterer klar messbar, auch verhandelbar ist, ist der Wert von Menschen nicht in Geld oder vergleichbaren Werten aufwiegbar.
Kants Definition ist bis heute die Grundlage für unser Verständnis des Begriffs Würde. Teil der deutschen Verfassung wurde er, als parallel auch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen entstand. Verabschiedet im Dezember 1948, steht die Würde hier in der Präambel als Voraussetzung für die danach aufgezählten Menschenrechte: „Da die Anerkennung der angeborenen Würde und der gleichen und unveräußerlichen Rechte aller Mitglieder der Gemeinschaft der Menschen die Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt bildet, (...) verkündet die Generalversammlung diese Allgemeine Erklärung der Menschenrechte als das von allen Völkern und Nationen zu erreichende gemeinsame Ideal ...“ Sowohl dem Grundgesetz als auch der Menschenrechtscharta hört man die Vergangenheit an. Die zwei Weltkriege, der Nationalsozialismus und der Holocaust sind Referenzpunkte für beide Texte.
Die namibische Künstlerin Tuli Mekondjo richtet ihren Blick auf einen Teil deutscher Geschichte, der noch vor dem Nationalsozialismus liegt. Namibia war zwischen 1884 und 1915 als das sogenannte Deutsch-Südwestafrika deutsche Kolonie. Die Schutztruppen hatten Hunderttausende Namibierinnen und Namibier von ihrem Land vertrieben, zur Zwangsarbeit an neu zu bauenden Eisenbahnnetzen und in den Bergwerken gezwungen und in Lager gesperrt. Der Tod von mehr als 100.000 Menschen wurde entweder billigend in Kauf genommen oder, gestützt auf einen explizit ausgesprochenen Schießbefehl, planmäßig verursacht.
Parlamentarier wie August Bebel stellten damals empört die Situation in Deutsch-Südwestafrika im Reichstag zur Debatte: „Im Februar 1894 erschien der Sozialdemokrat August Bebel mit einer ‚Nilpferdpeitsche‘ im Reichstag. Mit ihr veranschaulichte er seinen Vorwurf, dass deutsche Kolonialbeamte brutal nackte Afrikanerinnen blutig auspeitschen ließen. Auch andere Abgeordnete griffen nun Zeitungsmeldungen auf, die über harte Körperstrafen und den sexuellen Missbrauch von Afrikanerinnen berichtet hatten. Damit eröffneten sie einen Reigen von Kolonialskandalen, die Reichstag und Öffentlichkeit die nächsten Jahrzehnte beschäftigen sollten.“ Dieser drastische Auftritt war nur der Anfang parlamentarischer Debatten, die 1906 sogar zur Auflösung des Parlaments und zu Neuwahlen führten.
Die Verbrechen der deutschen Schutztruppen, insbesondere in der Zeit von 1904 bis 1908, wurden im Jahr 2021 durch den damaligen Außenminister Heiko Maas als Völkermord anerkannt. Bis heute dauert die Aufarbeitung der deutschen Kolonialzeit an. Nicht nur Historikerinnen und Historiker, auch Kulturinstitutionen, deren ethnologische Sammlungen mit Artefakten und menschlichen Überresten aus den einstigen Kolonien gefüllt wurden, widmen sich deren Erforschung und Kontextualisierung. Tuli Mekondjo ist dabei eine gefragte Gesprächspartnerin und Beraterin.
Die Arbeit, die sie für den Deutschen Bundestag in Referenz zu Artikel 1 umsetzte, besteht aus fünf zu einem einzigen Bild zusammengenähten Leinwänden, die von fein gestickten blauen und roten Linien durchzogen werden. Mekondjo versteht sie als eine sinnbildliche Landkarte Namibias, die durch die von der deutschen Kolonialmacht initiierten, von den namibischen Männern erbauten Eisenbahnlinien gekenn¬zeichnet wird. Entlang der blauen Trassenlinien finden sich Zeichen für Arbeitscamps und jene Lager, in denen Aufständische und ihre Frauen und Kinder interniert und zu Tode gehungert wurden. Eine schmale rote Linie steht für die „red line“, eine Grenze, die zwischen Nord- und Südnamibia gezogen wurde, um im Norden verbreitete Tierseuchen fernzuhalten. Sie war auch der Rekrutierungsort für Männer, die sich freiwillig zur Arbeit in den Minen meldeten und dort gemustert wurden:
Die Trennung des Landes in Nord und Süd separierte Ethnien, Stammesgruppen und Familien. Noch heute funktioniert Namibia nach den territorialen Grenzen, die die deutschen Schutztruppen damals zogen, noch heute er¬wachsen aus den damaligen Setzungen Feindschaften und der Mangel eines Gemeinsinns für das ganze Land. (T.M.)
Zwischen den Linien zeigt Mekondjo auf Leinwand transferierte Fotos aus namibischen Archiven. Die weit größte Präsenz gibt sie dabei den Frauen, denen dieses Werk unter dem Titel „Echos der Matriarchinnen“ gewidmet ist. Sie zeigt junge und alte, in traditioneller Kleidung oder nackt, mit oder ohne Schmuck, die meisten schauen direkt auf die Betrachtende/ den Betrachtenden. Eher im Hintergrund zeigt sie Fotografien von Männern – sowohl der aufständigen Hereros und Nama als auch Aufnahmen aus Arbeitslagern. Sie erläuterte in einem Gespräch ihre Schwerpunktsetzung:
Die Frauen Namibias haben inmitten von Leid und Tod die Kultur, die Traditionen und die Fruchtbarkeit bewahrt, sie haben das Leben erhalten und für unser Überleben gesorgt [...] Unser Selbstverständnis ist ein matriarchales: Wir definieren uns immer über den Clan der Mutter, denn sie führt den Haushalt, sie gebiert die Kinder und zieht sie groß. Die Mutter ist das Zentrum jeder Familie. Die Männer, die gesund genug waren, um in den Kupfer¬minen zu arbeiten, verließen ihre Dörfer. Manchmal für drei Monate, manchmal für ein ganzes Jahr. Die Frauen blieben mit den Kindern und den Alten zurück und mussten plötzlich Mutter und Vater auf einmal sein. Sie bestellten die Felder, brachten die Ernte ein, kochten, sorgten sich um die Tiere – und waren verantwortlich für die Kinder, die Alten, die Kranken. Manchmal kamen die Männer nicht zurück – entweder, weil sie gestorben waren, oder weil sie im Süden neue Familien gegründet hatten. (T.M.)
Die Tatsache, dass Tuli Mekondjo Frauen in den Mittelpunkt ihrer Bilderzählung stellt, geht über die konkreten Erinnerungen an die Rolle der Frauen weit hinaus. Die Wissenschaftlerin und Galeristin Julie Taylor beschrieb, dass weibliche Stimmen in postkolonialen Texten und Kunstwerken zu einer künstlerischen Methode geworden seien, um scheinbar objektivierte und bereits kanonisierte Narrative in Frage zu stellen. Gerade wenn deren Inhalte als fremdbestimmt wahrgenommen werden, weil sie nicht von oder mit den Betroffenen und ihren Nachkommen, sondern in Erzählungen über sie etabliert wurden, reproduzierten sie alte Herrschaftsmuster und Abhängigkeiten. Weibliche Stimmen stehen in dieser Sichtweise für subjektive und kleinteilige persönliche Erzählungen jenseits festgeschriebener Gewissheiten, für Wissen und Erinnerungen, die bisher nicht gehört oder nicht für bedeutungs¬voll gehalten wurden. Mit ihnen und durch sie zu sprechen, bedeutet „Widerstand, Umdeutung und vor allem den Anspruch darauf, die eigene Geschichte selbst erzählen zu können.“
Tuli Mekondjo erhebt den Anspruch auf neue Formen des Erinnerns. „Bei ihrer Beschäftigung mit kolonialen ethnografischen Fotografien interessiert sich Tuli Mekondjo besonders für den Verlust von mündlichen Überlieferungen und kulturellen Praktiken der Aawambo Kwanyama, die von Initiationsritualen bis zu Körperschmuck wie Frisuren reichen. Die Künstlerin beschäftigt sich intensiv mit der Wiederherstellung, Aneignung und Würdigung historischer schwarzer Subjektivitäten. Durch das Archiv werden die Ahnen in der Gegenwart greifbar.“ Die Ahnen sind auch in dieser Arbeit präsent. Nicht nur in den Blicken der Frauen, die aus dem Damals in unsere Lebenswelt treten. Auch die Vögel, die, als seien sie allen irdischen Zwängen enthoben, leicht verdreht den Bildraum durchfliegen, stehen für die Seelen der Verstorbenen.
Mekondjos Werk ist Erinnerungsarbeit und sie will, dass wir den Blicken der Ahnen begegnen. Viele Details ihrer künstlerischen Praxis, zu der auch Performances und Rituale gehören, zeigen, dass es ihr darum geht, „Mittel zur Verarbeitung und Heilung zu schaffen“.
In Bezug auf Artikel 1 GG und den hier verwendeten Begriff der Würde ist dabei das Konzept „Ubuntu“ von Bedeutung, das nur zu beschreiben, nicht mit einem Wort zu übersetzen ist: „Es ist eine kooperative, großzügige, spontane, freundliche, sorgende und teilende Grundhaltung [...]. Es ist ein kollektiver und nicht individualistischer Ansatz [...]. Die Kunst des Menschseins spiegelt sich in dem Zulu-Sprichwort: Ich bin (...), weil Du bist.“ Ubuntu spricht von respektvollem Miteinander und von Gemeinschaft, die dem Einzelnen erst seinen Sinn und seine Bedeutung gibt. Es ist – auch – ein Gegenentwurf zu allen Theorien und Ideologien, die Abgrenzung, Trennung, Unterscheidung nach „Rasse“, Geschlecht, Abstammung oder Herkunft definieren.
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