26.05.2025 | Parlament

Rede bei der Gedenkstunde für die Opfer des Grenzregimes der DDR am Grenzdenkmal Hötensleben

Das Foto zeigt eine Frau, die auf einer Bühne an einem Stehtisch steht. Sie spricht in ein Mikrofon. Die Bühne befindet sich draußen auf einer Wiese.

Die SED-Opferbeauftragte hält eine Rede. (© Team Zupke)

Lieber Herr Dr. Langer, 
lieber Herr Bürgermeister Friedrichs,
lieber Herr Bürgermeister Schobert,
liebe Frau Dr. Frisch,

liebe Freunde der VOS,
liebe Schülerinnen und Schüler,
liebe Abgeordnete und Gemeindevertreter,
liebe Gäste,

In den zurückliegenden Monaten jährten sich viele für uns wichtige Ereignisse. Manche mit viel Berichterstattung in den Medien. Manche Ereignisse jedoch fast nur bemerkt von den Menschen, die dieses selbst vor Ort erlebt haben.

Vor dreißig Jahren erfolgte der Abzug der russischen Truppen aus dem wiedervereinigten Deutschland. Mit Konvois von Panzern über Straßen und Schienen. Hier im Nachbarort, in Ausleben, endet dieses Kapitel deutsch-deutscher und europäischer Geschichte. Ein Kapitel, das das Leben der Menschen vor Ort über Jahrzehnte tagtäglich geprägt hat. 

Der damalige russische Präsident Jelzin sprach bei einem Festakt zum Truppenabzug vom Ende der Gewalt in der Welt und ja sogar vom Beginn eines dauerhaften Friedens. Die Mauer und der Eiserne Vorhang waren gefallen und wir erlebten einen der glücklichsten Momente in unserer Geschichte. Demokratie hatte über Diktatur gesiegt. Der kalte Krieg, die ständige Sorge über einen Krieg mitten in Europa, schien für immer in die Geschichtsbücher verbannt. 

Dieses Gefühl der Erleichterung. Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern und ich denke, vielen von Ihnen geht es genauso. 

Wenn wir heute in die Welt schauen, dann sehen wir ein anderes Bild. Freiheit und Demokratie sind keine Selbstverständlichkeit – auch nicht bei uns in Europa. 

Was bedeutet es in einer Diktatur zu leben? Die Auseinandersetzung mit diesen Fragen ist wichtig. Mit Blick auf die Vergangenheit, um unsere Geschichte zu verstehen. Aber ebenso auch, wenn wir heute vor der Entscheidung stehen, wie wir uns gegenüber den heutigen autoritären Regimen verhalten. Und wenn wir erleben, dass mitten in unserer heutigen Gesellschaft immer wieder Menschen das Autoritäre als das vermeintlich bessere Gesellschaftsmodell propagieren.

Was bedeutet es in einer Diktatur zu leben? Was bedeutet es, wenn der Staat nicht die Freiheit der Menschen garantiert, sondern sie einsperrt? 

Die innerdeutsche Grenze, wie hier in Hötensleben. Sie war mehr als nur ein Riss durch unser Land. Sie war das zu Stein, Beton und Stacheldraht gewordene Signal eines repressiven Staates an seine Bürger: „Eure Freiheit liegt in unseren Händen!“

Diese Grenze teilte nicht nur diese über Jahrhunderte historisch gewachsene Region. Diese Grenze teilte die damalige Welt. Demokratie auf der einen Seite, Diktatur auf der anderen. Aber diese Grenze. Sie war mehr als das. 

An Stacheldraht und Mauer trennten sich viele Wege. Paare, Familien, Freunde. Bleibe ich oder gehe ich? Diese Entscheidung traf niemand für sich allein. 

Die innerdeutsche Grenze war eben nicht nur ein Riss durch unser Land. Mauer und Grenze waren ein Riss durch die Gesellschaft und durch viele tausende Familien. 

Häufig sehen wir in Filmen nur die Geschichten der erfolgreichen Fluchten. Menschen, die mithilfe von Tunneln oder Ballons ihren Weg in die Freiheit fanden. Die Flucht über Mauer und Grenze führte jedoch eben nicht für jeden in die Freiheit. Viel zu häufig führte dieser Weg in die Gefängniszellen der Diktatur und ja, für manche auch in den Tod. 

Die Toten an der Grenze. Sie waren in der DDR ein Staatsgeheimnis. Nicht die Erinnerung an die Opfer, sondern das Schweigen und das Vergessen war das Ziel des SED-Staates. Umso wichtiger ist es, dass wir heute die Opfer beim Namen nennen. Dass wir uns an ihre Schicksale erinnern und wir den Angehörigen zur Seite stehen. Es ist wichtig, dass wir die Opfer beim Namen nennen. Dass wir ihre Geschichte erzählen. 

Es sind Schicksale, wie das von Werner Thiemann. Er war 17, als er sich im August 1953 noch unter den Eindrücken der Niederschlagung des Volksaufstandes mit einem Freund entschloss, die Gängelung durch den SED-Staat nicht länger hinzunehmen und die DDR gen Westen zu verlassen. Ohne genau zu wissen, was sie im Grenzgebiet erwarten würde, machten sie sich unweit von hier in Ohrsleben auf den Weg Richtung Bundesrepublik. In den frühen Morgenstunden liefen sie einen Feldweg an der ehemaligen Bahnstrecke nach Jerxheim entlang. Die Grenzpolizisten, die sie bemerkten, hielten sie zunächst nur für Arbeiter. Bis sie jedoch auf ihre schweren Taschen aufmerksam wurden. Die beiden Flüchtigen versuchten einer Kontrolle und Verhaftung zu entgehen. Sie brachen ihre Flucht gen Westen ab und liefen in Richtung Hinterland. Nach zwei kurzen Warnschüssen trafen die Kugeln der Grenzsoldaten Werner Thiemann von hinten. Er erlitt einen Hüftdurchschuss mit Verletzungen in Darm und Leber. Er konnte vor Schmerzen nur noch wimmern. Erst nach einer Stunde traf ein Arzt ein und eine weitere Stunde später ein Krankenwagen. Tage später erlag Werner Thiemann im Krankenhaus seinen schweren Verletzungen.

In einer „Stellungnahme zur Schuldfrage“ schrieb die DDR-Grenzpolizeikommandantur, dass der Grenzer „rechtmäßig von der Schusswaffe Gebrauch gemacht hat. Sein Verhalten war wachsam und taktisch richtig.“ Die Grenzer erhielten auf Befehl des Leiters der Hauptverwaltung der Deutschen Grenzpolizei eine Prämie von 50 Mark für „gute Wachsamkeit und taktisch einwandfreies Verhalten“.

Das Unrecht an der innerdeutschen Grenze. Es hatte viele Formen. Es sind die Grenztoten, wie Werner Thiemann. Es sind Flüchtlinge, deren Weg bei der Flucht nicht in die Freiheit, sondern in die Gefängnisse führten. Aber es sind ebenso auch die Menschen, die auf Geheiß der SED-Führung ihre Heimat verloren. Das Unrecht der Zwangsaussiedlungen ist auch heute noch vielen Menschen unbekannt.

Die „Aktion Ungeziefer“, die zwangsweise Umsiedlung von rund 8.000 DDR-Bürgern aus dem innerdeutschen Grenzgebiet. Ungeziefer. Diese menschenverachtende Sprache spiegelt den menschenverachtenden Geist eines menschenverachtenden Systems. 

Zehn Jahre später die Aktion „Festigung“ mit tausenden weiteren Opfern. Über 11.000 Menschen waren in der DDR von Zwangsumsiedlung betroffen. Diese Zahl, über 11.000 Menschen, über 11.000 Männer, Frauen und Kinder, ist für mich nur schwer zu greifen. Es sind Menschen, deren Leben durch den brutalen Eingriff der Diktatur von einem Tag auf den anderen für immer verändert wurde. Menschen, wie Marie-Luise Tröbs, die in den letzten Jahren hier zu Ihnen gesprochen hat. Und die, als damals Zehnjährige, auf dem Rückweg vom Kindergottesdienst in die Arme der Volkspolizisten lief. Staatssicherheit und Volkspolizei waren gerade dabei, die Zwangsumsiedlung ihrer Familie vorzubereiten. Marie-Luise Tröbs wurde noch nicht einmal die Möglichkeit gegeben, sich von ihren Schulkameradinnen zu verabschieden. Nur ein Puppenkleid und eine Spielzeug-Kaffeemühle konnte sie damals mitnehmen. Es ist eine Geschichte, die mich immer wieder trifft.

Ich denke bei der Zwangsaussiedlung aber auch an Menschen, wie Klara Obkirchner, die sich in der Nacht vom 6. auf den 7. Juni 1952 mit ihrem Mann Kaspar das Leben nahm. Die Angst vor der Zwangsaussiedlung und davor, möglicherweise in ein Lager in die Sowjetunion verschleppt zu werden, trieb das Paar in den Selbstmord. Die Geschichte der Zwangsaussiedlung ist eine Geschichte des Leids, der Repression, des Heimatverlustes und ja, auch in vielen Fällen, eine des Todes. Die Erinnerung an die Zwangsaussiedlung fordert uns als Gesellschaft heraus. Die Zwangsaussiedlung hat uns keine Gefängnisse, Mauerteile oder Stacheldraht, wie hier am Grenzdenkmal in Hötensleben, hinterlassen. Für die Zwangsaussiedlung fehlen die Orte, die in unserer Erinnerungskultur wie Brücken zwischen Vergangenheit und Gegenwart fungieren können. Die Zwangsaussiedlung hat heute meist nur stille Zeugen.

Umso wichtiger ist es, dass wir, wie heute, über die Zwangsaussiedlung sprechen, dass wir uns mit den bis heute andauernden Folgen auseinandersetzen.
Ich bin Ihnen, lieber Dr. Langer für die Gedenkstätten-Stiftung Sachsen-Anhalt, der Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn und dem Grenzdenkmalverein hier in Hötensleben und auch dem Verein Grenzenlos dankbar, dass ihre Gedenkveranstaltung hier an der ehemaligen innerdeutschen Grenze, ganz bewusst auch die Opfer der Zwangsaussiedlung einschließt. 

Als Bundesbeauftragte für die Opfer der SED-Diktatur möchte ich sagen: Begreifen wir die Erinnerung an die Zwangsaussiedlung nicht als eine regionale Aufgabe der früheren Grenzregionen! Nein, die Erinnerung der Zwangsaussiedlung ist wie die Erinnerung an die Opfer von Mauer und Stacheldraht von nationaler Bedeutung. Es liegt an uns, dass die Erinnerung an die Opfer des Grenzregimes, an die Opfer der SED-Diktatur, nicht verblasst. 

Wenn wir in diesem Jahr „35 Jahre Deutsche Einheit“ bei Gedenkstunden und Festakten feiern, denke ich an die Menschen, die für ihre und unsere Freiheit gekämpft haben und dafür ihr Leben ließen. Wir denken aber ebenso auch an all die Familien, Verwandten und Freunde, die geliebte Menschen an der Grenze verloren haben. Sie leben bis heute mit diesem schmerzlichen Verlust. Die Opfer des Grenzregimes. Die Opfer der politischen Verfolgung in der sowjetischen Besatzungszone und der DDR und ihre Angehörigen. Wir vergessen sie nicht! Ihre Schicksale sind eine Mahnung und ein Auftrag an unsere heutige demokratische Gesellschaft zugleich: „Nie wieder Diktatur“

Vielen Dank!