Rede von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas bei der Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus
[Stenografischer Dienst]
Präsidentin des Deutschen Bundestages Bärbel Bas:
Vor 79 Jahren wurde Auschwitz befreit. - Heute gedenken wir der Opfer des Nationalsozialismus. Wir erinnern an jeden einzelnen Menschen, der von den Nationalsozialisten ausgegrenzt, entrechtet, beraubt, verfolgt, gedemütigt, gequält und ermordet wurde.
Sehr geehrter Herr Bundespräsident!
Sehr geehrte Frau Büdenbender!
Herr Bundeskanzler!
Frau Präsidentin des Bundesrates!
Frau Vizepräsidentin des Bundesverfassungsgerichts!
Exzellenzen!
Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Verehrte Gäste!
Wir erinnern an alle sehr unterschiedlichen Menschen, die Opfer des nationalsozialistischen deutschen Terrors wurden:
Wir gedenken der 6 Millionen ermordeten Jüdinnen und Juden Europas.
85 Jahre nach dem deutschen Überfall auf Polen erinnern wir in diesem Jahr besonders an die Opfer der deutschen Besatzungsherrschaft und Vernichtungspolitik in Mittel- und Osteuropa. 80 Jahre nach dem Warschauer Aufstand, 81 Jahre nach dem Aufstand im Warschauer Ghetto gedenken wir derer, die Widerstand geleistet und das mit dem Leben bezahlt haben.
Wir gedenken der Sinti und Roma.
Wir gedenken der wegen ihrer politischen Überzeugung, ihres christlichen Glaubens oder als Zeugen Jehovas verfolgten Menschen.
Wir gedenken der verfolgten queeren Menschen, der als angeblich „asozial“ Diffamierten und der Opfer der sogenannten „Euthanasie“.
Und wir erinnern an all diejenigen, die als Kriegsgefangene sowie Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter ausgebeutet und entrechtet wurden.
Wir gedenken aller Menschen, die von den Nationalsozialisten ermordet wurden.
Wir gedenken auch der Überlebenden des Holocaust. Denn der Holocaust verschwand nie aus ihrem Leben. Und nie aus dem Leben ihrer Familien. „Auschwitz bleibt ein Leben lang in mir, bleibt immer Teil meines Körpers und meines Geistes“, so sagt es Tova Friedman, die als Kind Auschwitz überlebte.
Heute sind mehrere Generationen im Gedenken vereint. Die erste Generation: die Überlebenden, vor denen wir uns heute verneigen. Wie Sie, liebe Frau Szepesi. Ich bin sehr dankbar, dass Sie heute bei uns sind und gleich zu uns sprechen werden. Vielen Dank!
(Beifall)
Ich darf heute auch weitere Überlebende begrüßen: ein herzliches Willkommen Ihnen allen, ganz besonders Frau Friedländer und Frau Knobloch!
(Beifall)
Lieber Herr Reif, Sie vertreten heute die zweite Generation. Ihr Vater war Überlebender. Auch Ihnen ein herzliches Willkommen und vor allem herzlichen Dank, dass Sie heute zu uns sprechen werden!
(Beifall)
Liebe Frau Szepesi, auch Ihre Kinder, Enkel und Urenkel sind gekommen. Viele von ihnen setzen sich dafür ein, die Erinnerung wachzuhalten. Auch Ihnen allen ein herzliches Willkommen!
(Beifall)
Ich darf außerdem über 60 Jugendliche im Plenarsaal begrüßen, die Teilnehmerinnen und Teilnehmer unserer Jugendbegegnung. Eine Veranstaltung, die auch in diesem Jahr die Gedenkstunde begleitet.
Und ich begrüße die Studierenden der Universität der Künste Berlin. Von Ihnen hören wir heute Musik von Künstlerinnen und Künstlern, die von Nationalsozialisten verfolgt oder ermordet wurden.
(Beifall)
Sehr geehrte Damen und Herren, für die Überlebenden und ihre Familien stellten und stellen sich schwierige Fragen: Wie kann man weiterleben, wenn man Auschwitz erlebt hat? Wie kann und soll man die eigene Erinnerung an den Holocaust weitergeben? Wie geht man als Kind oder Enkel mit dem Schmerz der Eltern und Großeltern um?
Liebe Frau Friedländer, Sie sagen: „... jeder hatte seinen eigenen Schmerz.“ Zitat Ende. Und so unterscheidet sich auch, wie die Überlebenden versuchten, nach und mit dem erlittenen Grauen ihr Leben zu machen.
Viele Überlebende schwiegen. Nur so erschien es ihnen möglich, mit den Erinnerungen weiterzuleben. Nach Ihrer Befreiung wollten Sie, liebe Frau Szepesi, nie mehr über Auschwitz sprechen.
Viele verdrängten die Erinnerung. Um wieder Halt zu finden in einem - zumindest äußerlich - normalen Alltag. Soweit das möglich war.
Einige wollten die eigenen Kinder vor dem Grauen abschirmen. Lieber Herr Reif, auch Ihr Vater sprach nicht über seine Erlebnisse. Sie wuchsen „mit Schweigen behütet“ auf, wie Sie es selbst formulieren.
Viele waren die einzigen Überlebenden in ihren Familien. Sie empfanden zusätzlich zu ihrem Schmerz auch Schuldgefühle: Warum hatten gerade sie überlebt?
Einige Überlebende sprachen später doch - auch Sie, liebe Frau Szepesi. Die Hoffnung ist: Sprechen hält die Erinnerung wach. Wenn die Überlebenden sprechen, geben sie den Toten eine Stimme.
Meine Damen und Herren, im Dezember 1963 begann der erste Frankfurter Auschwitz-Prozess. 360 Überlebende nahmen als Zeuginnen und Zeugen die Last des Sprechens auf sich. Sie standen den Angeklagten, ihren Peinigern, direkt gegenüber. Sie durchlebten nochmals ihr Leid, das die Deutschen ihnen angetan hatten. Damit die Wahrheit über die deutschen Verbrechen öffentliches Wissen wird. Damit zumindest einige der Täter zur Rechenschaft gezogen werden.
Bei der Urteilsverkündung sagte der Richter Hans Hofmeyer - ich zitiere -: „In Auschwitz begann eine Hölle, die für das normale menschliche Gehirn nicht auszudenken ist und die zu schildern die Worte fehlen.“ Zitat Ende.
Bei Gericht konnten die Überlebenden sicher sein, Zuhörerinnen und Zuhörer zu finden. In unserer Gesellschaft war das nicht selbstverständlich.
Auch Sie, liebe Frau Szepesi, sagen: „Lange wollte niemand meine Geschichte hören.“ Zitat Ende. Es erfüllt mich mit Scham, dass den Überlebenden lange niemand zuhören wollte, wenn sie von ihrem Leid und den deutschen Verbrechen sprachen.
Heute liegt die Erinnerung oft wie ein Schatten über den Familien der Überlebenden. In ihnen lebt das Leid der Eltern und Großeltern weiter. Die Wunden werden vererbt.
Sehr geehrte Damen und Herren, 79 Jahre sind vergangen, seit Auschwitz befreit wurde - beinahe ein Menschenleben. Nur wenige Zeitzeugen können noch zu uns sprechen. Ihre persönlichen Schilderungen rufen uns ins Bewusstsein: Wir tragen Verantwortung, dass sich der Holocaust nie wiederholen darf. Es ist unsere Verpflichtung, das Gebot des „Nie wieder!“ mit gleicher Stärke und Überzeugung weiterzugeben. Von Generation zu Generation.
(Beifall)
Diese Verantwortung verjährt nicht. „Nie wieder!“ war, ist und bleibt eine Aufgabe für unsere gesamte Gesellschaft. Jede und jeder kann und muss dazu beitragen,
(Beifall)
unabhängig davon, was die eigenen Eltern, Großeltern und Urgroßeltern getan und erlitten haben. Oder wo sie herkommen.
Meine Damen und Herren, ich stelle mir oft die Frage: Wie setzen wir unsere Verantwortung des „Nie wieder!“ um? Ich bin überzeugt: Wir müssen uns über diese Verantwortung immer wieder neu verständigen.
Deutsche haben 6 Millionen Jüdinnen und Juden ermordet. Lange haben wir gehofft, die nachfolgenden Generationen müssten mit diesem Wissen immun sein gegen Antisemitismus. Wir merken in diesen Tagen leider deutlich: Das stimmt nicht. Judenhass ist kein Problem nur der Vergangenheit. Antisemitismus ist ein Problem der Gegenwart.
Das zeigt sich insbesondere in erschreckender Weise seit dem 7. Oktober, seit dem barbarischen Hamas-Terrorangriff auf Israel.
Im Kibbuz Kfar Aza habe ich die Zerstörung und die Spur des Hamas-Terrors gesehen. Herr Botschafter Prosor, Sie können sich der Solidarität dieses Hauses sicher sein!
(Beifall)
Und wir wollen dabei unterstützen, eine Perspektive des friedlichen Zusammenlebens in Nahost zu schaffen. Es ist ein Gebot der Menschlichkeit, das Leid aller Menschen zu sehen, das Leid der Zivilbevölkerung in Gaza genauso wie das Leid der Geiseln, die seit dem 7. Oktober in der Gewalt der Hamas sind.
Wir können uns ihre Qualen kaum vorstellen; aber ich weiß, wie sehr ihre Familien leiden. Ich habe zweimal Angehörige hier im Deutschen Bundestag und auch in Israel getroffen. Wir alle hoffen mit den Angehörigen, dass die Geiseln bald endlich wieder bei ihnen sind.
(Beifall)
Meine Damen und Herren, auch in Deutschland steigt die Gewalt gegenüber Jüdinnen und Juden. Es bedrückt mich, wenn jüdische Studierende erzählen, dass sie seit dem 7. Oktober nicht mehr zur Uni gehen - aus Angst, dort angefeindet zu werden. Oder wenn Jüdinnen und Juden vermeiden, ihren Namen und ihre Adresse anzugeben - aus Angst, zu Hause bedroht zu werden. Viele sprechen auf der Straße nicht mehr Hebräisch - aus Angst, aufzufallen. Über 2 000 antisemitische Straftaten wurden seit dem 7. Oktober begangen - fast jede Stunde eine Straftat. Dieser Ausbruch des Antisemitismus ist eine Schande für unser Land.
(Beifall)
Deutschland darf und wird dazu nicht schweigen.
Lieber Herr Schuster, wir stehen solidarisch an der Seite der Jüdinnen und Juden, und wir erheben unsere Stimme gegen jede Form von Judenhass.
(Beifall)
Meine Damen und Herren, das Erinnern darf sich nicht auf Gedenkveranstaltungen beschränken. Wir müssen die Erinnerung an den Holocaust immer wieder neu beleben. Ich danke allen, die die Erinnerung mit großem Engagement und auch neuen Ideen wachhalten - mit Formaten wie den digitalen Zeitzeugen, denen Schülerinnen und Schüler Fragen stellen können, mit virtuellen Projektionen zerstörter Synagogen, mit Tiktok-Videos von Überlebenden und so vielem mehr.
Wir brauchen mehr politische Bildung gegen Antisemitismus, gegen Rassismus, gegen Menschenfeindlichkeit, auch und gerade in Schulen. Wir müssen Begegnungen schaffen, um Hass abzubauen - „Meet a Jew“ heißt zum Beispiel eine Initiative des Zentralrats der Juden -, und wir müssen Respekt und Toleranz stärken, wie es einige Rabbiner und Imame tun, wenn sie gemeinsam in Schulen gehen.
Unser Rechtsstaat muss mit aller Entschiedenheit gegen Antisemitismus vorgehen und gegen alle, die unsere Demokratie zerstören wollen. Das muss selbstverständlich sein. Wenn sich Ausgrenzung und Hass in unserem Land breitmachen, dann wird unsere Demokratie erdrückt.
Liebe Frau Szepesi, wenn Sie mit Jugendlichen über Ihr Leben sprechen, sagen Sie oft: Wenn man Ungerechtigkeit erlebt, dann sollte man nicht schweigen, sondern dem entgegentreten. Zitat Ende. Lassen Sie uns alle den Mut haben, nicht zu schweigen, sondern Hass und Menschenfeindlichkeit entschlossen entgegenzutreten!
(Beifall)
Hunderttausende sind in den vergangenen Wochen aufgestanden, überall in Deutschland, im ländlichen Raum und in den Städten. Jung und Alt, viele Familien, mit und ohne Migrationshintergrund. Sie alle haben gezeigt: Unsere Demokratie ist vielfältig, lebendig und wehrhaft. Dafür danke ich.
(Beifall)
Auch im Alltag müssen wir dagegenhalten, wenn wir antisemitische oder rassistische Parolen hören, in der U-Bahn, im Kollegenkreis, an den Schulen. Jede und jeder Einzelne kann zeigen: Wir sind eine Gesellschaft, die jeden einzelnen Menschen achtet, unabhängig von Religion, Herkunft und Aussehen.
(Beifall)
Meine Damen und Herren, die deutsche Demokratie und die Erinnerung an die deutschen Verbrechen gehören zusammen. Dieses Jahr feiern wir das 75. Jubiläum unseres Grundgesetzes. Es wurde verfasst unter dem Eindruck von Völkermord, Diktatur und Krieg. Das Grundgesetz atmet den Geist des „Nie wieder!“. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, das ist eine zentrale Lehre der Shoah, die uns verpflichtet: Menschlichkeit muss immer unser Maßstab sein - gegenüber jedem einzelnen Menschen.
(Beifall)
Liebe Frau Szepesi, ich danke Ihnen sehr, dass Sie nun zu uns sprechen. Danke, dass Sie hier sind!
(Beifall)