Parlament

Rede des Bundestagspräsidenten Dr. Norbert Lammert anlässlich der Gedenkstunde im Deutschen Bundestag an die Opfer des Nationalsozialismus

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Sehr geehrter Herr Bundespräsident! Verehrte Frau Köhler! Frau Bundeskanzlerin! Herr Bundesratspräsident! Herr Präsident des Bundesverfassungsgerichts! Exzellenzen! Verehrte Familie von Lenka Reinerová! Liebe Kolleginnen und Kollegen des Deutschen Bundestages! Verehrte Gäste!

In wenigen Tagen ist es genau 75 Jahre her seit dem Machtantritt der Nationalsozialisten in Deutschland am 30. Januar 1933. Damals war der erste Versuch parlamentarischer Demokratie in unserem Lande endgültig gescheitert. Unter dem Eindruck dieser Entwicklung sezierte noch im selben Jahr Thomas Mann die vermeintliche „deutsche Revolution“, zu der die nationalsozialistische Propaganda den Weg in den menschenverachtenden Unrechtsstaat stilisierte. In einem Brief an Albert Einstein schrieb der Nobelpreisträger, ihr Wesen sei nicht „Erhebung“, sondern „Hass, Rache, gemeine Totschlaglust“. Das ganze Ausmaß dessen, wohin die rassistische Verblendung und Vernichtungswut geführt hatten, zeigte sich zwölf Jahre später: Als am 27. Januar 1945 die Rote Armee in Auschwitz das größte der deutschen Vernichtungslager erreichte, fand sie noch etwa 8 000 entkräftete Menschen vor, dort, wo zuvor 1,2 Millionen Deportierte aus ganz Europa - Frauen wie Männer, Alte und Kinder - entrechtet, entwürdigt und ermordet worden waren.

Seit 1996 begehen wir in Deutschland den 27. Januar und damit die Befreiung von Auschwitz als nationalen Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus. Seit drei Jahren folgt die internationale Staatengemeinschaft diesem Beispiel weltweit.

Ich hätte es übrigens für durchaus angemessen gehalten, wenn diese zentrale öffentliche Veranstaltung im deutschen Parlament im Hauptprogramm einer der beiden öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten übertragen würde - in diesem Jahr, im letzten Jahr, in jedem Jahr, auch und gerade mit Blick auf die gleichzeitigen Programmangebote.

Wir gedenken in dieser Stunde im Deutschen Bundestag aller Opfer eines beispiellosen totalitären Regimes: Juden, Christen, Sinti und Roma, Menschen mit Behinderung, Homosexuellen, politisch Andersdenkenden sowie Männern und Frauen des Widerstandes, Wissenschaftlern, Künstlern, Journalisten, Kriegsgefangenen und Deserteuren, Greisen und Kindern an der Front, Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern und der Millionen Menschen, die unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft entrechtet, verfolgt, gequält und ermordet wurden. Wir erinnern damit an unvorstellbares Menschheitsverbrechen, an Völkermord und systematisch betriebenen Massenmord. Und wir bekennen zugleich unsere besondere Verantwortung im Kampf gegen Antisemitismus, Rassismus und Intoleranz.

Der Holocaust ist und bleibt die fortwährende Quelle für ein „Gefühl der Fassungslosigkeit“, wie es der Historiker Saul Friedländer einmal ausgedrückt hat. Diese Fassungslosigkeit entbindet uns aber weder von der Verantwortung, alles zu tun, damit sich Ähnliches nicht wiederholt, noch bewahrt sie uns vor der Auseinandersetzung mit der Frage, wie es in Deutschland dazu kommen konnte. Der Deutsche Bundestag wird sich in Kürze in einer besonderen Veranstaltung dieser Frage stellen und der besonderen Verpflichtung, die sich aus ihrer Beantwortung ergibt.

Der 30. Januar 1933 war weder ein „Betriebsunfall der deutschen Geschichte“ noch war er unausweichlich - und schon gar nicht war dies die „Machtergreifung“, wie es in der falschen Revolutionsmetaphorik der Nationalsozialisten hieß. Dass der Weg in die Diktatur keine Zwangsläufigkeit war, ist eine beständige Mahnung an alle demokratischen Kräfte: Jeder Bestrebung, unsere heute gefestigte Demokratie und ihre Ansprüche zu ignorieren, zu verhöhnen, zu unterlaufen oder offen angreifen zu wollen, werden wir gemeinsam und entschieden entgegentreten. Nach den bitteren Erfahrungen des letzten Jahrhunderts dulden wir keine Form von Extremismus, Rassismus und Antisemitismus - nirgendwo in der Welt und in Deutschland schon gar nicht.

Meine Damen und Herren, ein absoluter Machtanspruch, der sich unter welchen Vorzeichen auch immer anmaßt, Untaten zu rechtfertigen, darf nicht toleriert werden: So lautet im Rückblick auf ihr eigenes Leben in einem Jahrhundert der Extreme die ganz persönliche Konsequenz der tschechischen Schriftstellerin und Journalistin Lenka Reinerová, die wir nach dem großen ungarischen Autor und Zeitzeugen Imre Kertész im vergangenen Jahr als Rednerin für die heutige Gedenkveranstaltung im Deutschen Bundestag eingeladen hatten. Ihre gesamte Familie wurde in deutschen KZs ermordet. In bewegenden Erzählungen hat sie darüber immer wieder geschrieben. Nur durch Zufall war es ihr als publizistisch aktiver Kommunistin gelungen, sich selbst dem Zugriff der Nationalsozialisten zu entziehen, als deutsche Truppen in Prag einmarschierten. Sie floh zunächst nach Frankreich, wo sie als Ausländerin zwischenzeitlich interniert wurde und Einzelhaft erlitt. Und auch der abenteuerliche Weg in die Emigration nach Mexiko führte zunächst nur zur neuerlichen Internierung in einem berüchtigten Wüstenlager der Sahara. Der Flucht vor den Nationalsozialisten und dem Verlust ihrer Familie in der Schoah folgten nach Krieg und Exil Schreibverbote und Verbannung unter der kommunistischen Diktatur in ihrer alten Heimat.

Lenka Reinerová ist als deutschsprachige Autorin die wohl letzte bedeutende Vertreterin einer ehemals stolzen Tradition deutsch-tschechisch-jüdischer Kultur in Prag. Ich bedauere es sehr, dass sie, trotz aller Bemühungen bis zuletzt, heute hier nicht anwesend sein kann, um zu uns zu sprechen. Denn damit entgeht uns nicht nur eine beeindruckende persönliche Begegnung mit dieser Jahrhundertzeugin und großen Erzählerin. Wir müssen leider auch auf ihr viel gerühmtes gesprochenes Prager Deutsch verzichten. Wir wissen aber, verehrte, liebe Frau Reinerová, dass Sie in der deutschen Botschaft in Prag über den Bildschirm diese Gedenkveranstaltung mitverfolgen. Auf diesem Weg möchte ich Sie im Namen des Deutschen Bundestages und aller hier Anwesenden herzlich grüßen. Wir wünschen Ihnen von Herzen alles Gute, vor allem eine schnelle Genesung!

(Beifall)

Meine Damen und Herren, „Ich wandre durch Theresienstadt, das Herz so schwer wie Blei“, so heißt es in dem eben vorgetragenen Kinderlied von Ilse Weber. Die Antwort auf die Schlussfrage ihres Liedes, „wann wohl das Leid ein Ende hat, wann sind wir wieder frei?“, hat sie nicht mehr erlebt. Als Krankenschwester im KZ Theresienstadt folgte sie den von ihr betreuten Kindern nach Auschwitz und wurde dort in der Gaskammer umgebracht. „Bleischwer“, so wiegt auch im Empfinden von Lenka Reinerová der Verlust ihrer nach Theresienstadt deportierten Verwandten. Doch Hass nütze nichts, sagt sie ohne Verbitterung. Trauer aber bleibe. Diese Trauer fülle für immer einen Winkel der Seele. Angesichts solch schmerzhafter Erinnerungen von Überlebenden und Nachkommen der Ermordeten sollten wir Deutsche uns beständig die Versöhnungsbereitschaft bewusst machen, die wir nach dem Krieg erlebt haben. Sie war ganz sicher nicht selbstverständlich.

Vor gut einem Monat wurde in Bochum der jüngste Synagogenneubau in Deutschland eingeweiht. Das alte Gotteshaus war wie viele andere vor 70 Jahren in der Nacht vom 9. November 1938 angezündet und zerstört worden. Heute hat die jüdische Gemeinde in Bochum wie andernorts wieder so viele Mitglieder wie vor der Zeit des Nationalsozialismus. Ihr Leitspruch lautet: „Wo ein Haus ist, ist Heimat.“ Es erfüllt uns mit Freude und Dankbarkeit, dass sich heute Menschen jüdischen Glaubens hier wieder zu Hause fühlen. Vielerorts haben sich religiös und kulturell lebendige jüdische Gemeinden entwickelt, deren Zahl beständig wächst. Diese Entwicklung könnte in unserer Gedenkstunde kaum schöner repräsentiert sein als durch den Gesang Avitall Gerstetters, die als erste jüdische Kantorin Europas regelmäßig in Berliner Synagogen amtiert.

Versöhnung, liebe Kolleginnen und Kollegen, haben wir aber nicht nur im eigenen Land erlebt, sondern auch mit unseren Nachbarn: Frankreich und Polen, Niederlande und Ungarn, Belgien und Slowakei. Lenka Reinerová gehört zu den wichtigen Botschafterinnen der deutsch-tschechischen Aussöhnung. „Traumcafé einer Pragerin“ heißt eine ihrer Erzählungen. Darin lässt sie literarisch die Blütezeit deutsch-tschechisch-jüdischer Kultur im polyglotten Vorkriegs-Prag wieder aufleben. Mit bewundernswert langem Atem ist es Frau Reinerová aber auch gelungen, in ihrer Heimatstadt ein Literaturhaus deutschsprachiger Autoren zu gründen, das kein Traumcafé ist, sondern ein wirklicher Treffpunkt für den literarischen Austausch zwischen Deutschen und Tschechen. Man könne doch der Sprache nichts übel nehmen, begründet die Ehrenbürgerin Prags dieses jahrzehntelange Engagement für die deutsche Sprache. Hier erfüllt sich mit Leben, was die Deutsch-Tschechische Erklärung von 1997 und der vor zehn Jahren gegründete Zukunftsfonds gewollt hatten: die Verständigung zwischen Deutschen und Tschechen, ermöglicht durch möglichst viele beidseitige Begegnungen.

„Im Herzen Europas“, so lautete der Titel einer deutschsprachigen Prager Zeitschrift, für die Lenka Reinerová zur Zeit des Prager Frühlings 1968 arbeitete - ein Ereignis von wiederum historischem Rang, dem wir in diesem Jahr ebenfalls gedenken. Nach der Niederschlagung dieses mit vielen Hoffnungen nicht nur in Mittel- und Osteuropa verbundenen Versuchs eines „Sozialismus mit menschlichem Gesicht“ durch sowjetische Panzer und Truppen des Warschauer Pakts im August 1968 flog Lenka Reinerová wegen angeblicher „politischer Unzuverlässigkeit“ zunächst aus der Partei, dann aus ihrem Verlag und damit aus ihrer Arbeit. Erst von 1985 an durfte sie wieder unter ihrem eigenen Namen publizieren. Sie war fest entschlossen, nie wieder irgendwo Mitglied zu werden. Aber als sie 80 wurde, hat sie sich - „aus einem Gefühl der Zugehörigkeit“, wie sie das formuliert hat - von der jüdischen Gemeinde in Prag registrieren lassen. An ihrem 85. Geburtstag ist sie bei Amnesty International eingetreten.

Meine Damen und Herren, 40 Jahre nach dem Prager Frühling und über 60 Jahre nach Kriegsende liegt Prag nicht mehr nur kulturell im Herzen Europas. Tschechien und Deutschland befinden sich heute in der Mitte eines freiheitlichen und demokratischen Europas. Sie gehören beide zur europäischen Staatenfamilie, die mit der Erweiterung des Schengen-Raums gerade erst einen weiteren wichtigen Schritt getan hat, um dauerhaft eine gemeinsame friedliche Zukunft zu sichern.

Aus der furchtbaren Erfahrung des von Deutschland entfesselten Vernichtungskrieges begründet sich ganz wesentlich die Idee der europäischen Einigung, deren Anfänge wir im vergangenen Jahr feierten. Wir Deutsche konnten in diesem Prozess Vertrauen zurückgewinnen und übernehmen heute Verantwortung in Europa und in der Welt. Es wäre aber leichtfertig, zu sagen, dass wir aufgrund unserer historischen Erfahrung gegen Verirrungen gefeit seien. Das sind wir nicht. Es ist beschämend, dass in unserem Land beständig Polizeipräsenz notwendig ist, um jüdische Einrichtungen vor Angriffen zu schützen. Antisemitismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit sind noch immer ein ernstes Problem, das auch in neuen Formen und anderer Gestalt auftritt. Wir Deutsche wollen unserer besonderen Verantwortung gerecht werden, auch und gerade in der EU. Wir begrüßen deshalb ausdrücklich die während der deutschen Ratspräsidentschaft erzielten Fortschritte in der strafrechtlichen Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit überall in Europa. Und es soll auch ein Signal sein, dass im Rahmen der OSZE heute ein internationales Expertenforum im Bundestag tagt, um über Herausforderungen und erfolgreiche Methoden in der Bekämpfung des Antisemitismus zu diskutieren.

Meine Damen und Herren, historisches Wissen gewinnt durch die emotionale Dimension der Erinnerung von Überlebenden. Deshalb freue ich mich über die auch in diesem Jahr wieder stattfindende Jugendbegegnung, deren Teilnehmer ich herzlich begrüße. Auf Einladung des Deutschen Bundestages können sich Jugendliche aus Deutschland und den Nachbarstaaten intensiv mit der Geschichte des Nationalsozialismus befassen, in diesem Jahr besonders mit dem Schicksal von Kindern als Opfer. Sie besuchten mit dem Konzentrationslager Theresienstadt einen authentischen Ort des Verbrechens und trafen dabei auch auf Zeitzeuginnen des Holocaust. Besonders danke ich auch für die Teilnahme der Überlebenden des grausam-berühmten „Mädchen-Zimmers 28“ in Theresienstadt, deren bittere Erfahrungen und zugleich ermutigenden Botschaften Gegenstand einer eindrucksvollen Ausstellung im Paul-Löbe-Haus sind, die wir in dieser Woche gemeinsam eröffnet haben.

Die Weitergabe authentischer Erfahrungen ist unverzichtbar für eine Erinnerungskultur, die lebendig bleiben muss. Denn sonst bliebe das Wissen um den Völkermord in der Anonymität des millionenfachen Todes abstrakt. „Sie waren zu vielstellig, zu nichtssagend in ihrer Unvorstellbarkeit“, schreibt Lenka Reinerová über ihr eigenes Empfinden, als sie die Zahl von 92 000 ermordeten Frauen im Konzentrationslager Ravensbrück las. An anderer Stelle heißt es: „Wenn Bücher schreien könnten!“ Denn auch der literarischen Verarbeitung sind Grenzen gesetzt. Mehr als alle Literatur berühren uns die unmittelbaren Zeugnisse. Saul Friedländer, als Kind deutschsprachiger Juden wie Lenka Reinerová in Prag geboren, sagte in seiner bewegenden Rede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels im letzten Jahr:

Wenn wir diesen Schreien lauschen, dann haben wir es nicht mit einem ritualisierten Gedenken zu tun.

Diese individuellen Stimmen würden uns erschüttern wegen der Arglosigkeit der Opfer, ... ihrer völligen Hilflosigkeit, ihrer Unschuld und der Einsamkeit ihrer Verzweiflung. Die Stimmen der Menschen bewegen uns unabhängig von aller rationalen Argumentation, da sie den Glauben an die Existenz einer menschlichen Solidarität stets von neuem einer Zerreißprobe aussetzen und in Frage stellen.

Es sind Menschen wie Lenka Reinerová, die von sich behaupten und behaupten dürfen, dennoch an das Leben und an die Menschen zu glauben. „Mein Schicksal ist das Schicksal meiner Generation“, sagt sie und verbindet damit den Auftrag an sich und die noch Lebenden, über das Erlebte zu berichten. Sie empfindet das nicht als Pflicht, sondern als bloße Selbstverständlichkeit. Mit dem Ende der Zeitzeugenschaft wird sich aber die Vergangenheit der ganz unmittelbaren persönlichen Erfahrung endgültig entzogen haben. Dann stellt sich gewiss noch drängender als bisher die Frage: Welches Geschichtsbild festigt sich, wenn nur kulturell überlieferte Erinnerungen Gegenstand unseres Gedenkens sind? In dieser Grundfrage unserer Gedenkdiskurse liegt eine beständige Herausforderung. Im Spannungsfeld von historischem Wissen und dem Verlust an authentischer Erinnerung der Überlebenden müssen wir geeignete Formen des Gedenkens finden. Dafür gibt es kein Rezept. Diese Spannung müssen wir aushalten, damit müssen wir umgehen - und das stets aufs Neue. Das - und nicht nur das - sind wir den Opfern der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft schuldig.

Ich danke der Schauspielerin Angela Winkler, dass sie nun die kurze Rede von Lenka Reinerová und einen Auszug aus ihrer für diese Gedenkveranstaltung von ihr selbst ausgewählten Erzählung „Der Ausflug zum Schwanensee“ vorträgt.