Grußwort von Marianne Birthler
Anrede
Vielleicht haben Sie sich das auch schon gegönnt:ein Wochenende oder ein Urlaub an der Ostseeküste machen. Dann wissen Sie, was es bedeutet, aus dem Meer der Häuser an die richtige See zu gelangen, statt der „Berliner Luft“ den Geruch von Muscheln, Seetang und Salzwasser einzuatmen. An Orten zu sitzen, an denen der Blick nicht von Gebäuden versperrt wird, sondern bis zum Horizont gleiten kann.
Diese Genüsse konnte man natürlich auch schon zu DDR-Zeiten genießen, vorausgesetzt, man ergatterte einen der raren Ferienplätze oder hatte sich im Jahr zuvor einen Ostseezeltschein gesichert, was ohne Beziehungen oder Bestechung nur alle drei Jahre möglich war.
Umso größer das Glück, wenn wir endlich da waren. Zwei oder drei Wochen Wasser, Wellen, Wind, Wald genießen. Jedenfalls, solange wir uns mit der Natur begnügten. Ich erinnere mich, gelegentlich auf das Wasser gestarrt zu haben: Dort hinter dem Horizont ist Schweden. Oder Dänemark. Keine Mauer davor, kein Stacheldraht. Nur Wasser. Ich sitze am Rand der DDR und schaue raus. In den Westen. Schnell an was anderes denken. Allenfalls abends Geschichten erzählen von abenteuerlichen Fluchten, von denen man so gehört hat.
Aber die Sehnsucht nach der großen weiten Welt oder auch nur der kleinen Welt nebenan blieb schmerzhaft spürbar, jedenfalls für viele - und erst recht hier, wo man aus der DDR rausgucken konnte. Da standen sie (mit oder ohne Badehose) im Wasser und beobachteten die großen Schiffe am Horizont, oder sahen am Hafen von Warnemünde der nach Dänemark auslaufenden Fähre hinterher. Manche trauten sich, den hoch oben auf dem Deck stehenden Passagieren zuzuwinken. Wo die wohl heute Abend sein würden? Beim Winken war eine gewisse Zurückhaltung angebracht. Allzu heftige Grüße wurden aufmerksam registriert und notiert. Das ahnten wir damals - heute wissen wir es aus den Stasi-Akten.
Wenn wir über das Eingesperrtsein in der DDR und ihr unmenschliches Grenzsystem reden, meinen wir zumeist nur die Berliner Mauer und die sogenannte grüne Grenze. In der Tat vergessen wir, zumal hier in der ehemaligen „Frontstadt“ Berlin, dass es auch oben im Norden, jenseits der Idylle von Rügen, Usedom oder Boltenhagen ein engmaschiges, nach innen, also gegen die eigene Bevölkerung gerichtetes Sperrsystem gab. Der Blick auf das offene weite Meer war trügerisch.
Anders als in Berlin oder an der DDR-Westgrenze gab es keine so offensichtlichen Kennzeichen des Eingesperrtseins wie hohe Mauern oder Stacheldrahtverhaue mit vorgelagertem Sperrgürtel. Die SED und ihre Helfer wagten nicht, den Strand zu sperren - das taten sie nur an wenigen Stellen. Die Bevölkerung musste wenigstens im Urlaub bei Laune gehalten werden. Millionen liebten dieses Vergnügen. Ein Zudrehen auch dieses Ventils hätte im Kessel „DDR“ womöglich Überdruck erzeugt.
So überwachte man diesen möglichen Durchschlupf auf andere, weniger offensichtliche, aber nicht minder perfide Art. Auf See und an der Küste durch die Volksmarine, die Grenzbrigade Küste, die Volkspolizei, durch so genannte „gesellschaftliche Kräfte“ und freiwillige Denunzianten, im Landesinnern vor allem durch die Stasi.
Wie diese Grenze abgeriegelt wurde, und wie dennoch nach Selbstbestimmung und Freiheit drängende DDR-Frauen und -Männer versuchten, über die „nasse Mauer“ zu entkommen, davon berichtet die Ausstellung, die wir heute eröffnen.
Es ist das Verdienst des kleinen, aber rührigen Vereins „Über die Ostsee in die Freiheit“ und seiner Unterstützer, allen voran die Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, dieses noch unterbelichtete Kapitel jüngster Vergangenheit aus dem Schatten der „Berliner Mauer“ heraus geholt zu haben.
Bei kaum einem DDR-Thema wird so deutlich wie beim Thema Grenze, dass es sich dabei um ein Kapitel gesamtdeutscher Geschichte handelt. Deshalb hat die Ausstellung gerade hier im Deutschen Bundestag ihren richtigen Platz. Fluchtziel war oft Schleswig-Holstein. In nicht wenigen Fällen spielten der Bundesgrenzschutz See oder bundesdeutsche Schiffe und Seeleute eine wichtige Rolle bei den Fluchtversuchen von DDR-Bürgern.
Den Mitgliedern des Vereins sei herzlich für ihr ehrenamtlichen Engagement gedankt, verbunden mit dem Wunsch, dass Sie Ihr Stehvermögen behalten und auch künftig Förderer finden. Ich weiß, dass für Sie mehr als mein persönlicher Dank zählt, dass die Ausstellung hier im Paul-Löbe-Haus und auch auf ihren künftigen Stationen einen regen Zuspruch findet. Dies wiederum käme uns allen zugute.