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Boris Mikhailov (Artikel 19 GG)

Audiodatei des Textes zu Boris Mikhailov

o.T., 2024

Digitale Fotocollage, Mixed Media, 110×50 cm

Im Herbst des Jahres 2022 eröffnete im Maison Européenne de la Photographie Paris eine große Retrospektive für den Fotografen Boris Mikhailov. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine, der am 24. Februar 2022 begonnen und Europa mit ungläubigem Entsetzen überzogen hatte, war das bestimmende Thema der Medien. Mikhailov ist Ukrainer. Er war auch Sowjetbürger. Der Zusammenfall des Großreiches Sowjetunion gehörte ebenso zu seinen Themen wie vorher das Leben in diesem Staat, das für ihn 1938 in einer Hungersnot, mit der die Ukraine zur Aufgabe eigener nationalistischer Bestrebungen gezwungen werden sollte, als Kind zweier Wissenschaftler begonnen hatte.

Die Biografie Boris Mikhailovs liest sich wie ein Buch zur politischen Geschichte gesellschaftlicher Umwälzungen und Verwerfungen, die seitdem seine Heimat erschütterten und sein Leben unmittelbar beeinflussten. Seine Fotografien – ein immenses Werk – liefern Bilder dazu. Um einem Missverständnis zuvorzukommen: Mikhailov arbeitete nie journalistisch, sein fotografisches Werk ist eine Sammlung poetischer, gleichnishafter, oft wilder Einzelaufnahmen und Serien, die meist von Vorgefundenem ausgehen: vom widersprüchlichen und unheroischen Alltag auf der Straße (den er verbotenerweise fotografierte), von einer weggeworfenen privaten Fotoserie (die er mit neuen imaginären Texten versah), von fremden Familienbildern (die er nachkolorierte), auch von blassen Kindheitserinnerungen (denen er neue bildliche Entsprechungen gab), von den Heldenerzählungen der Sowjetmacht (die er mit nackten Selbstbildnissen in absurden Inszenierungen konterte). Boris Mikhailov erschuf eine Bildwelt, die zugleich ernst und heiter, sowohl wahr als auch erfunden war. Er kehrte Tristesse in Absurdität, begegnete Heldentum mit Schalk und Epen mit Neuinterpretationen.

Seine künstlerische Unerschrockenheit machte ihn zu einem der größten Namen in der experimentellen Fotografieszene der Sowjetunion. Ilya Kabakov, das Zentrum einer Moskauer Künstlergruppe von Konzeptualisten, warb um Mikhailov. Zugleich machte ihn seine Kunst zum Dissidenten, zum Abtrünnigen und Provokateur. Die Tatsache, dass seine Mutter Jüdin war, hatte ohnehin von Anfang an für Misstrauen und Benachteiligung gesorgt – nicht nur während des Zweiten Weltkriegs unter deutscher Besatzung, sondern auch danach, in der Sowjetunion. Seine selbst gewählte Unangepasstheit und das zugeschriebene Anderssein wurden mit Nichtachtung, Misstrauen, Beschlagnahmung, Berufsverbot und der Verweigerung öffentlicher Anerkennung geahndet. Je nach politischer Großwetterlage.

Artikel 19 GG ist das letzte der Grundrechte. Es ist sperrig und eher eine Absicherung als eine konkrete Freiheit. Es ist wie Artikel 18 GG eine Garantie des Rechtsstaats. In diesem Fall ist es eine Versicherung an die Bürgerinnen und Bürger, sich gegen Verletzungen ihrer Grundrechte und gegen administrative Gewalt wehren zu können. Mikhailov lebte den Großteil seines Lebens unter anderen Rahmenbedingungen. Es ist schwierig zu sagen, ob ihm Grundrechte vorenthalten wurden, wenn das System, in dem er lebte, diese gar nicht vorsah. 

Für seinen Beitrag zu Artikel 19 GG richtete er den Fokus allerdings nicht auf seine persönlichen Erfahrungen, sondern schlug einen viel größeren Bogen in die Gegenwart – denn persönliche Freiheitsrechte zerfallen im Moment von Krieg. Dafür kombinierte er zwei Fotografien: Eine Aufnahme, die den Angriff einer schwarzen Krähe auf eine weiße Taube zeigt, und die Fotografie eines Gleitschirmfliegers.

Die beiden Vögel sind ein martialisches Motiv, das sofort auch auf einer symbolischen Ebene als Kampf zwischen Gut und Böse wahrgenommen wird. Der Angriff ereignete sich im Januar 2014 auf dem Petersplatz in Rom – der Papst hatte zum Frieden in der Ukraine aufgerufen. Damals wurde das Land von gewaltvollen Reaktionen auf Proteste erschüttert, mit denen die Bevölkerung seit Dezember 2013 in Kiew und in anderen Städten für Reformen eintrat. Die Demonstrierenden forderten die Amtsenthebung des damaligen Präsidenten Viktor Janukowitsch, Neuwahlen und die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der Europäischen Union. Die Polizei reagierte mit brutaler Gewalt, die Bilder der bewaffneten Einsätze gegen friedlich Demonstrierende und die steigenden Opferzahlen gingen um die Welt. Als Papst Franziskus während des Angelus-Gebetes für Frieden in der Ukraine betete und zur Versinnbildlichung seines Wunsches zwei Kinder weiße Friedenstauben aus dem Fenster des Apostolischen Palastes senden ließ, erfolgte der Angriff mehrerer Krähen.

Boris Mikhailov fotografierte die Fernsehübertragung und behielt das Bild. Es wurde nun zum Ausgangspunkt für seine Arbeit zu Artikel 19 GG, in dem garantiert wird, dass Bürgerinnen und Bürger sich gegen „die öffentliche Gewalt“ zur Wehr setzen können und ihr nicht ausgeliefert sein sollen.

Mikhailov hatte sich schon früher medialer Bilder bedient. Seine Serie „Parlament“ etwa entstand in einem Moment, als die Fernsehübertragung einer Plenardebatte gestört war und die Bilder der Liveberichterstattung auf dem Bildschirm in einzelne Segmente zerlegt wurden. Mikhailov war von diesen zufälligen, von einer technischen Störung verursachten Bildern so fasziniert, dass er die Störung danach willentlich herbeiführte, den Bildschirm fotografierte und dabei eine Serie von Einzelbildern erzeugte, die als Gesamtserie auf der Biennale in Venedig gezeigt wurde. Im Text zur Ausstellung hieß es: „Während sie [Boris Mikhailov und seine Frau Vita] die Mechanismen hinter der Technologie einfangen, bringen diese Fotografien das Phänomen der zersplitterten Information an die Oberfläche und vermitteln Gefühle wie Angst, Wut oder Verwirrung.“ Der Effekt der eine Taube attackierenden Krähe ist ähnlich.

„Es war für uns alle wie ein böses Omen.“ erinnerte sich Mikhailov in einem Gespräch. Tatsächlich sollte der Präsident aufgeben und fliehen, aber nur wenig später wurde die Halbinsel Krim von Russland annektiert. Es war der Beginn eines Krieges, den damals noch niemand wahrhaben wollte und dabei die Fortsetzung von Auseinandersetzungen, die seit Jahrhunderten immer wieder aufflammten und die idyllische Landschaft der Krim in einen Kriegsschauplatz verwandelten: „Über die Jahrhunderte hinweg war die Halbinsel einerseits ein Rückzugsort, ein ,Garten‘ imperialer und lokaler Herrscher und ein Hafen- und Handelsplatz; andererseits wurde sie immer wieder umkämpft, besetzt oder zerstört. Die Krim gehörte über Jahrhunderte zum Osmanischen Reich, war Sitz des Krim-Khans, Sommerresidenz russischer Zaren, deutscher Okkupanten und sowjetischer Generalsekretäre. Seit 1954 gehörte die Halbinsel zur sowjetischen und seit 1991 zur unabhängigen Ukraine. Seit Ende Februar 2014 sind die Autonome Republik Krim und Sewastopol von regulären russischen Militäreinheiten besetzt und von der Russischen Föderation annektiert.“31 

Mikhailov kombinierte das Motiv der beiden Vögel mit Fotografien, die er in den 1980er Jahren aufgenommen hatte. Er hatte damals auf der Krim einen Gleitschirmflieger fotografiert – das Symbol der persönlichen Freiheit schlechthin. Kunstgeschichtlich verbindet sich das Motiv mit der Figur des Ikarus aus der griechischen Mythologie, jenem Himmelsstürmer, der mit selbstgebauten Flügeln aus der Gefangenschaft zu fliehen suchte und dabei der Sonne so nah kam, dass das Wachs auf den Flügeln schmolz, er ins Meer stürzte und starb. Hier, in Mikhailovs Montage, sind Krähe und Taube von den Himmelsstürmern umgeben, so dass eine seltsame Gleichzeitigkeit von Krieg und Frieden, Angst und Hoffnung, Aufstieg und Fall entsteht, wie ein ewiger Zeitlauf der Geschichte, in dem „Freiheit“ in vielen Variationen als zentraler Begriff der Grundrechte mal gewährt, mal genommen wird. „Es gibt etwas, das Zeit charakterisiert, aber es gibt auch eine Zeitlosigkeit. Mit der können Künstler arbeiten in einer Art abstrakter Zeit und abstrakten Raums. Damit wollte ich immer arbeiten“, erklärte Mikhailov einmal in einem Gespräch.32 Doch so neutral ist es für ihn am Ende nicht. Mit Reflexion auf den Auftrag zu Artikel 19 GG formulierte er:

Leben und Freiheit sind die unverletzlichen Rechte eines jeden. Nicht der Käfig, sondern das Fliegen sollte das Ziel von Gesetzen sein. Alles, was den freien Flug behindert, muss verurteilt werden. Der Segelflieger und die Taube, die fliehen konnte, sind frei aufzusteigen. Es geht am Ende immer nur um Freiheit und Hoffnung. (B.M.)