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Thomas Locher (Artikel 17 GG)

Kunstwerk: Artikel 17 GG: Thomas Locher: A Artikel 17. Petitionsrecht, 1995/2024 und B Artikel 17. Petitionsrecht, 2023/2024

Artikel 17 GG: Thomas Locher: „A Artikel 17. Petitionsrecht“, 1995/2024 und „B Artikel 17. Petitionsrecht“, 2023/2024 (© Thomas Locher)

Audiodatei des Textes zu Thomas Locher

A

Artikel 17. Petitionsrecht, 1995/2024

Eichenrahmen, Acrylglas [bedruckt und beschrieben], 170×146×6,5 cm

B

Artikel 17. Petitionsrecht, 2023/2024

Eichenrahmen, Acrylglas [bedruckt und beschrieben], 170×146×6,5 cm

Im Jahr 1999 wurde der Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages 50 Jahre alt. Wolfgang Thierse, damaliger Bundestagspräsident, nahm dies zum Anlass, ihn in einer eigens dafür ausgerichteten Feierstunde zu würdigen. Petitionen seien des Volkes Stimme, sagte Thierse, und tatsächlich sind die Anliegen, die Bürgerinnen und Bürger mit Petitionen an das Parlament herantragen, eine wichtige Möglichkeit politischer Teilhabe und Mitbestimmung – im Deutschen Bundestag genauso wie in den Landesparlamenten. Zwischen 1949 und 1999 wurden etwa 4,5 Millionen Eingaben an den Deutschen Bundestag gerichtet, 4,5 Millionen Bürgerinnen und Bürger unterschiedlichen Alters, unterschiedlichen Wohnorts, unterschiedlicher Herkunft und sogar Staatsangehörigkeit hatten sich an den Deutschen Bundestag gewandt, um auf Missstände aufmerksam zu machen, Gesetzesänderungen anzuregen oder Beschwerden zu adressieren.

Der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages erläuterte in einer Ausarbeitung das grundgesetzlich zugesicherte Petitionsrecht: „Seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland garantiert Artikel 17 Grundgesetz jeder Person – ob Kind, Ausländer, Inhaftierter, Soldat, Entmündigter, ob Bürgerinitiative, Verband oder Gliederung einer Partei – das Recht, sich mit Bitten zur Gesetzgebung und Beschwerden an die zur Entscheidung befugten Stellen und Behörden zu wenden: an kommunale Ratsvertretungen, an die Volksvertretungen der Bundesländer, an den Deutschen Bundestag, an das Europäische Parlament und an internationale Einrichtungen (z.B. Europarat, Europäische Menschenrechtskommission). Das Grundgesetz gibt den Bürgerinnen und Bürgern neben Wahlrecht und Abstimmungen über Länderneugliederungen wenig direktdemokratische Entscheidungschancen. In dieser Situation kommt das Petitionsrecht dem gestiegenen Bedürfnis nach Mitsprache in öffentlichen Dingen entgegen und regt zur Mitverantwortung, Gestaltung und Fortentwicklung des politischen Lebens und Rechtssystems an. Bürgerinnen und Bürger können mit ihren Petitionen auf die Politik einwirken und tun dies seit Jahren in beachtlichem Umfang. Nahezu 20.000 Petitionen erreichen Jahr für Jahr den Bundestag; die Zahl der Petenten und Unterstützer von Petitionen übersteigt inzwischen die Millionengrenze.“29 

Das Motiv der geschriebenen Sprache im Kontext von Politik führte zu Thomas Locher – einem der renommiertesten Künstler weltweit, die sich mit Sprache auseinandersetzen und sie selbst zum Thema ihrer künstlerischen Arbeiten machen. „Wer sagt was womit?“ fasste ein Kritiker ein Gespräch mit Locher und damit dessen konzeptionellen Zugang zu Sprache zusammen. Thomas Locher steht damit in der Tradition bedeutender Philosophinnen und Philosophen sowie Linguistinnen und Linguisten, die Sprache nicht als objektives oder neutrales Werkzeug, sondern ihren Gebrauch als Spiegel ökonomischer Verhältnisse und Ausdruck bestimmter Interessen verstehen. Dass Sprache ein Machtinstrument sein kann, zeigte etwa Victor Klemperer, der die Sprache des Dritten Reiches dokumentierte und analysierte. „Worte können sein wie winzige Arsendosen: Sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da“, konstatierte er 1947 in einem Notizbuch – er hatte den Nationalsozialismus überlebt und engagierte sich danach so sehr für den Aufbau der DDR als sozialistischem deutschen Staat, dass er 1950 sogar als Vertreter des Kulturbundes in die Volkskammer gewählt wurde und mehrfach Preise, sogar den vaterländischen Verdienstorden, erhielt. Klemperer ist deshalb durchaus ein umstrittener Gewährsmann für sprachwissenschaftliche Betrachtungen zur Politik, allerdings hatte er zum Ende seines Lebens bereits damit begonnen, die Sprache des SED-Regimes als „Sprache des vierten Reiches“ zu untersuchen. Die Vermutung, dass Sprache durch die Wahl von Begriffen und Worten das Denken und die Wahrnehmung der Welt beeinflusst, erhielt in der Sprachwissenschaft einen eigenen Namen: die Sapir-Whorf-Hypothese.

Locher ist nicht Teil dieses wissenschaftlichen Diskurses, sondern vertritt eine dezidiert künstlerische Position, die jenseits der linguistischen Paradigmen auf den Zusammenhang von Sprache, Macht und Politik aufmerksam macht und dafür geeignete Ausdrucksformen sucht: „Er beschäftigt sich seit Jahren konsequent mit prinzipiellen Grundlagen der Sprache, wie ihrer grammatikalischen Ordnung und der Komplexität ihrer Funktionsweise, mit Gesetzestexten oder Ökonomie – Grundlagen, die unumstößlich wirken, aber dennoch über eine Portion Fiktionalität verfügen. Seine Auseinandersetzung mit Bedeutungssystemen erstreckt sich auch auf ihre Inhalte, besonders auf die politischen Implikationen und die praktischen Auswirkungen auf die Lebenswirklichkeit von Individuen und Gruppen. Bespricht man Thomas Lochers Werke, ist man verführt, der Begrifflichkeit ihrer zugrundeliegenden Theorien zu folgen. Doch stellen seine Arbeiten keine sprachwissenschaftlichen oder soziologischen Forschungen, keine ins Bild gesetzten Theorien dar. Sie stehen als Kunstwerke, als ästhetische Einheiten für sich. Ihre konsequente Gestaltung – auf den ersten Blick nüchtern, spröde, auf den zweiten von Ironie durchsetzt – lassen uns seinen Überlegungen auch ohne Rückbezug auf Theorien folgen.“30 

Bereits 1995 hatte Locher sich mit den Grundrechten auseinandergesetzt. Er nannte dieses Projekt einen „Kommentar“ – was konkret bedeutete, dass er die Bestandteile jedes Artikels auf der Sprachebene mit Fußnoten versehen hatte, in denen er die Bedeutung und die Reichweite der verwendeten Begriffe nicht ausdeutete, sondern vielmehr zur Diskussion stellte: In der Präambel etwa markierte er neun Worte mit einer eigenen Zahl, der dann komplexe Mehrfachfragestellungen zugeordnet wurden. Für das kleine Wörtchen „kraft“ („... hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt ...“) notierte er: „wer setzt das Recht ein? das Volk? Eine Kraft? Die Kraft des Volkes? wer übt diese Kraft aus?“. Für den Begriff „Grundgesetz“ am Ende der Präambel wiederum notierte er sechs verschiedene mehrteilige Fragen, deren letzte lautet: „erreicht das Recht jeden? auch dich?“. Locher widersetzte sich damit mehreren Prinzipien: Gesetzestexte, zumal in Verfassungsrang, sind so formuliert, dass sie möglichst umfassend, allgemeingültig und, wenn nicht ewig, dann zumindest sehr lange gelten und verstanden werden können. Änderungen, Nachfragen, Interpretationen sind dabei eher unüblich, erst recht, wenn sie so grundsätzlich verständnisorientiert und assoziationsreich daherkommen, wie in den Kommentaren Lochers.

Ein ähnliches Prinzip wendete er später in seinem Projekt „Homo Oeconomicus“ oder in der vielteiligen Arbeit „Der Satzbauplan“ an. Locher versetzt sich dabei in die Rolle der Fragestellerin/des Fragestellers, die Antworten aber überlässt er den Betrachtenden.

Für seinen Beitrag zu Artikel 17 GG vollzog Locher einen zeitlichen Sprung. Zunächst erstellte er ein Exzerpt seiner Arbeit zum Grundgesetz aus dem Jahr 1995. Werk A wiederholt seine damalige Analyse des Artikels mit fünf von ursprünglich acht Fragekomplexen auf die gleiche typografisch fein abgestimmte Weise, fügt aber aktuelle Assoziationsketten, wie die diversen Möglichkeiten, „jedermann“ zu definieren, handschriftlich wie in einer Aktualisierung an.

Werk B ist eine neue Arbeit mit Überlegungen und Reflexionen zur Idee der Petition, der politischen Teilhabe und der Gemeinschaft. Wiederum stellt Locher dabei sowohl allgemeine als auch konkrete Fragen, zielt dabei aber auf noch grundsätzlichere Fragen und wirft sogar so etwas wie gesellschaftspolitische Utopien und Fernziele wie die Idee eines neuen Gesellschaftsvertrages auf: „Was ermöglicht das Petitionsrecht? Die Bürger*innen ergreifen die Initiative? allein ... oder mit anderen? Sie verlassen den eigenen sozialen Raum? es können neue Bündnisse geschlossen werden? neue Beziehungen entstehen ... UM WAS ZU TUN? UM WAS ZU ERREICHEN? UM WAS ZU VERÄNDERN? ein neuer Gesellschaftsvertrag?“

Beide Werke sind wie Mindmaps auf Glasplatten gebracht, als hätte der Autor den zugrundeliegenden inneren Frageprozess direkt auf eine (transparente) Tafel geschrieben und zur Diskussion gestellt. Die damit signalisierten Werte von Durchlässigkeit, Transparenz und Entwicklungsfähigkeit sind Zeichen einer lebendigen Demokratie.

(kvo)