Uli Aigner (Artikel 13)
Audiodatei des Textes zu Uli Aigner
ONE MILLION. Edition Artikel 13 – Deutsches Grundgesetz, 2024-2025
12 ungebrannte Porzellangefäße, bis zu 13 cm hoch, Durchmesser bis zu 15 cm, Holztisch, Bitumen, Wasser 20 Fotografien auf Alu-Dibond, 28×28 cm
Die Unverletzlichkeit der Wohnung ist eines von zahlreichen persönlichen Freiheitsrechten, die das Grundgesetz garantiert, um die Privatsphäre der Bürgerinnen und Bürger zu schützen und staatlichem Handeln in diesem Raum klare Grenzen zu setzen.
Uli Aigner um einen Beitrag zu diesem Artikel zu bitten, lag nahe. Die Künstlerin arbeitet seit vielen Jahren weltweit mit Porzellaninstallationen, wofür sie sich die seltene Technik des Prozellandrehens aneignete. Porzellan ist seit jeher das Material der Könige und Kaiser. Seine Geschichte reicht bis ins China des 7. Jahrhunderts zurück, Marco Polo hatte als einer der Ersten Porzellan nach Europa gebracht. An den europäischen Königshäusern, wo man noch aus Geschirr speiste, das aus Metall oder aus grober Tonkeramik bestand, schmückte man sich gern mit dem feinen Geschirr aus der Ferne, sogar Scherben dienten dazu, Wände in Schlössern und Palästen zu verkleiden. Man nannte es das „weiße Gold“ – was in etwa dem Wert gleichkommt, mit dem Porzellan aufgewogen wurde – und setzte Vermögen daran, die Rezeptur der Grundmasse herauszufinden.
Uli Aigner, die zunächst ein Handwerk erlernte und dann Kunst studierte, entwickelte eine Möglichkeit, die weiße Porzellanmasse zu drehen (und nicht, wie in den Manufakturen üblich, zu gießen) und verband die Idee, individualisierte Gefäße zu produzieren mit dem Willen, sie nicht nur wie Ware in Umlauf zu bringen, sondern ihren Weg in der Welt weiterzuverfolgen. Im Jahr 2014 begann sie mit dem Projekt ONE MILLION, das sie mit dem Vorhaben gründete, eine Million unikate Porzellangeschirrteile zu drehen. Uli Aigner verknüpft Herstellung, Verkauf, Tausch oder Schenkung, um über das Projekt, dessen Ergebnisse sich Gefäß für Gefäß in der ganzen Welt verteilen, „eine Spur durch die globale Gegenwart“ zu finden:
Porzellan ist ein politisches Material, ein Speichermedium: ca. 11.000 Gefäße habe ich bis heute gedreht. Jedes einzelne der Porzellangefäße ist an seinem Standort auf einer digitalen ONE MILLION Weltkarte abgebildet. (...) Meine Absicht ist, den Tisch mit der Welt zu decken, und alle – angstbefreit – zum Gespräch – virtuell und analog – miteinander einzuladen. So entsteht seit 2014 eine weltweite virtuelle Tischgesellschaft, die aber alle schon mal etwas Physisches wie Notwendiges dafür gemeinsam haben: ein Gefäß (aus meinen Händen in den ihren). (U.A.)
Der erwähnte Tisch wurde zum Ausgangspunkt für ihren Beitrag zu Artikel 13 GG, denn Tische sind das Zentrum jeder Wohnung. An Art, Aussehen, Material, Wert und Form eines Tisches lässt sich vieles über die Bewohnenden erzählen: Handelt es sich um große Familien, kinderlose Paare oder eine Einzelperson; sind die Kinder klein oder die Erwachsenen alt; ist der Tisch hoch oder niedrig – essen seine Nutzenden also aufrecht sitzend wie in Europa üblich, oder am Boden, wie man es in arabischen oder asiatischen Kulturen kennt; ist der Tisch alt und kaputt oder alt und liebevoll restauriert; oder ist er neu hergestellt und ein Designstück oder stammt aus einem Möbelhaus?
Die Einladung, mit ihren Gefäßen einen Tisch zu gestalten, entwickelte Uli Aigner weiter und kehrte die Ausgangsidee dabei in ihr Gegenteil:
Ich nehme seit meiner frühen Jugend auf dem Land diese gleichzeitig mit mir existierende und weltweit immer größer werdende Gruppe von Menschen ohne Obdach wahr. Ausgelöst durch einen Besuch in der Großstadt Wien, wo ich zum ersten Mal als 14-Jährige einen extrem verwahrlosten Obdachlosen am Gehsteig liegen sah. Ich konnte damals nicht verstehen, warum wir dem Mann nicht sofort halfen. Mein Onkel, mit dem ich damals unterwegs war, meinte nur: Geh weiter, das geht dich nichts an. Seitdem nehme ich wohnungslose Menschen in meinem Umfeld emotional sehr stark wahr, mit dem mulmigen Gefühl, dass meine Existenz oder meine Hilfsverweigerung, vielleicht meine Art zu leben, eben schon auch mit Schuld ist, an deren Art der Existenz. (U.A.)
Aigner wandte sich an die Caritas und die Diakonie und erfuhr von einer Caritas-Krankenwohnung, in der sich Obdachlose nach Krankenhausaufenthalten für vier bis acht Wochen erholen können. Sie sprach dort mit etwa zwanzig Personen und bot an, ihnen ein eigenes Porzellangefäß zu fertigen.
Porzellangefäße sind etwas Hochwertiges, sie sind funktionell, langlebig und dicht wie Stein, nicht nur für bürgerliche Stuben, sondern auch für ein Leben auf der Straße geeignet. Eine Art Pilgergefäß. Porzellan als Speichermedium. Obdachlosigkeit und Eigentum, Selbstwahrnehmung, Schönheit, Not und Existenz. Das Schreckliche und das Schöne ist gleichzeitig in jedem Menschen. (U.A.)
Im Ergebnis entstanden zwei handgedrehte identische Porzellanservice, jedes bestehend aus 20 Bechern, deren Form sich an der Glocke des Deutschen Bundestages orientiert. Sie wird (in äußerst seltenen Fällen) genutzt, um im Plenarsaal oder in den Ausschüssen zur Ordnung zu rufen, wenn die Präsidentin oder der Vorsitzende mit der Stimme nicht mehr durchdringt – ein Bild, das Aigner für die Obdachlosen passend schien.
Ein Gefäß schenkte sie der oder dem Wohnungslosen, das Zwillingsgefäß aber kommt in die Kunstsammlung des Deutschen Bundestages und kann dort, in Verbindung mit einem Foto des Zwillingsgefäßes, das nun irgendwo in Berlin genutzt wird, von Abgeordneten entliehen werden. In der Ausstellung zeigt Uli Aigner eine Installation von zusätzlichen zwölf ungebrannten Glockenbechern, die im Laufe der Ausstellungszeit zerfallen werden, weil auf der Tischplatte Wasser steht. Uli Aigner versteht dies als symbolische Performance, mit der sie „auf einen Begleitumstand der Unbehaustheit hin[weist], nämlich dem Regen ausgesetzt zu sein und auf den dadurch stattfindenden körperlichen Verfall.“