Rémy Markowitsch (Artikel 12)
Audiodatei des Textes zu Rémy Markowitsch
2024 Dreifarbiger Siebdruck auf Tapete auf Alu-Dibond, 210× 160cm
Tapete Design von William Morris, 1876, hergestellt von Morris & Co. (founded by W. Morris in 1861) Text Ausschnitt aus: William Morris, Art Under Plutocracy, 1883 Schriftart Morris Ornaments by P22 Type Foundry (Richard Kegler) nach Initialen von W. Morris für seine Kelmscott Presse Laminierung and art handling kaschierungberlin, Berlin Siebdruck Leo Kloster Handsiebdruck DRUCKBARWEDDING, Berlin Produktionsbetreuung und Druckdatenerstellung Stephan Fiedler, Book & Editorial Design, Berlin
Arbeit, das bedeutet gemeinhin die Produktion von Gütern und Dienstleistungen. Sie ist die Grundlage jeder Ökonomie – egal, unter welchen Produktions- und Eigentumsverhältnissen. Sie ist die materielle Existenzgrundlage des Menschen und die Voraussetzung, Bedürfnisse befriedigen zu können. Die Philosophen der Aufklärung erklärten Arbeit zur „sittlichen Pflicht“ und zur „Existenzbedingung menschlichen Daseins“. Karl Marx gründete seine Kritik der politischen Ökonomie, die er in seinem Hauptwerk „Das Kapital“ niederlegte, auf den „Doppelcharakter der in den Waren dargestellten Arbeit.“ Arbeit wird von Soziologinnen und Soziologen als die entscheidende Kraft für die soziale Einbindung von Menschen in Gemeinschaften verstanden und im besten Falle als Möglichkeit der individuellen Selbstverwirklichung. Sie ist das Zentrum von Staatsphilosophien, weil Arbeit als schöpferische Aneignung der Natur und (Weiter-) Entwicklung von Technik als zivilisatorische Triebkraft für Fortschritt wirken kann. Überall auf der Welt sind Arbeit, ihre Organisation und die Verhältnisse, in denen sie stattfindet, Ausweis und Gradmesser für die gesellschaftlichen Prozesse und den Zustand einer Gemeinschaft.
Rémy Markowitsch setzte sich in vielen Werkzyklen mit Themen auseinander, die direkt oder indirekt das Thema Arbeit behandeln. Er portraitierte im Projekt „Nudnik – Forgetting Josef Ganz“ für das Kunstmuseum Wolfsburg das Leben des jüdischen Volkswagenerfinders Josef Ganz, der im Jahr 1934 von den Nazis mit einem Arbeitsverbot als Ingenieur und totalem Schreibverbot für und über ihn belegt wurde. In seinen Projekten „No Simple Way Out“ im KINDL – Zentrum für zeitgenössische Kunst, Berlin und „We All (Except the Others)“ für das Weltkulturerbe Völklinger Hütte wurde Zwangsarbeit thematisiert: Im KINDL (auch im Brauereiwesen setzten die Nazis Zwangsarbeitende ein), im Zusammenhang mit Volkswagen zu nationalsozialistischen Zeiten in Wolfsburg, aber auch in den 1970-er Jahren in Brasilien und in der Völklinger Hütte im Saarland, wo während des gesamten Zweiten Weltkrieges 11.974 Männer, Frauen und Kinder als Zwangsarbeitende im größten saarländischen Industriebetrieb, dem Völklinger Werk, arbeiteten.
Zwangsarbeit, zu der während des Nationalsozialismus 13 Millionen Häftlinge, Kriegsgefangene und Zivilisten in Konzentrationslagern, Fabriken, Ghettos und Arbeitserziehungslagern gezwungen wurden, ist auch der Hintergrund, vor dem der Parlamentarische Rat dieses Grundrecht in Artikel 12 GG festlegte. Arbeit sollte für jeden Bürger und jede Bürgerin frei und völlig unabhängig von staatlicher Einflussnahme wählbar sein.
Rémy Markowitsch nahm bei seinem Werk zu Artikel 12 GG den modernen Arbeitsbegriff selbst zum Ausgangspunkt und blickt dabei in kritischer Distanz auf die der Arbeit zugeschriebenen gesellschaftlichen Werte:
Die Arbeit als zivilisatorische Triebkraft ermöglicht zwar Fortschritt, doch ihre destruktiven Auswirkungen auf Mensch und Umwelt bleiben oft unterschätzt. Eine kritische Neubewertung der Arbeit, ihrer ethischen Dimension und ihrer langfristigen Folgen für die Zukunft scheint notwendig. (R.M.)
Ähnlich argumentiert der Philosoph Peter Sloterdijk in seinem Essay „Die Reue des Prometheus“, in dem er die These verfolgt, dass Prometheus seine menschheitsverändernde Gabe – das Feuer – womöglich bereuen würde, sähe er die Welt in ihrem heutigen Zustand: „Die moderne Menschheit kann als ein Kollektiv von Brandstiftern gelten, die an die unterirdischen Wälder und Moore Feuer legen. Kehrte Prometheus heute auf die Erde zurück, würde er seine Gabe womöglich bereuen, schließlich droht nicht weniger als die Ekpyrosis [altgriechisch für Ausbrennen, Anm. d.A.], der Untergang der Welt im Feuer. Die Katastrophe verhindern kann nur ein neuer energetischer Pazifismus.“23
Für seine Arbeit zu Artikel 12 GG bezieht sich Markowitsch auf William Morris (1834 – 1896), einem durch seine ikonischen Tapeten- und Textilmuster weltbekannt gewordenen britischen Künstler, der schon in den Frühzeiten des Kapitalismus eine andere Vision von Arbeit entwickelte und dabei sowohl Kreativität als auch soziale Fragen konsequent mitdachte. Morris war einer der Hauptvertreter der Bewegung arts and crafts [Dt.: Kunst und Handwerk]. Deren Grundidee bestand nicht nur in der Verbindung von Kunst und Handwerk, sondern auch in der Einstellung, dass industriell hergestellte Güter zur Abkehr von Individualität und Qualität führen würden. Morris publizierte Texte zur Kunst und zum Kunsthandwerk, später auch politische Schriften. Ähnlich Karl Marx, der zur selben Zeit seine Kritik des gerade erstarkenden Kapitalismus entwickelte, fürchtete Morris, dass die voranschreitende Industrialisierung zur Entfremdung der Arbeit, zu schlechterer Qualität der produzierten Güter, zu mehr Ausbeutung und zu stärkerer Klassentrennung führen werde. Aus seiner Sicht lag die Rettung in kleinen und mittleren Handwerksbetrieben, was sowohl die Qualität der Produkte als auch das Wohlbefinden der Arbeitenden verbessern würde. Er setzte sich für Bildung ein – nicht zuvorderst akademische, sondern für den Erwerb praktischer Fähigkeiten und kreativer Ausdrucksformen. Und er glaubte – wie später die Vertreterinnen und Vertreter des Bauhauses auch –, dass Kunst und Schönheit nicht den Besitzenden vorbehalten seien, sondern den Alltag aller bereichern sollten. Ein Schlüssel lag für ihn in der Kunst selbst, die in seinem Sinne weit über die klassischen Gattungen hinausging. In seinem 1883 verfassten Werk „Art under Plutocracy“ [Kunst unter der Herrschaft des Geldes], beschrieb er seine Vision der Bedeutung von Kunst: „Lassen Sie uns [...] überlegen, was der wirkliche Stand der Kunst ist. Und zunächst muss ich Sie bitten, Ihr Verständnis von Kunst auszuweiten über das hinaus, was im eigentlichen Sinne Kunstwerke sind, also nicht nur die Malerei, die Bildhauerei und die Architektur, sondern auch die Formen und Farben aller Haushaltsgegenstände, ja sogar die Anordnung der Felder für Ackerbau und Viehzucht, die Verwaltung der Städte und unserer Straßen [...], mit einem Wort, Kunst auf den Aspekt der Äußerlichkeiten unseres Lebens auszudehnen. Denn ich muss Sie bitten zu glauben, dass jedes einzelne der Dinge, die die Umgebung ausmachen, in der wir leben, entweder schön oder hässlich ist, entweder erhebend oder erniedrigend, entweder eine Qual und Last für den Schöpfer oder eine Freude und ein Trost für ihn. Wie verhält es sich nun mit unserer äußeren Umgebung in diesen Tagen? Wie werden wir denen, die nach uns kommen, Rechenschaft ablegen können über unseren Umgang mit der Erde, die unsere Vorfahren uns noch schön überliefert haben, trotz all der Jahrtausende des Streits und der Sorglosigkeit und Selbstsucht?“
Morris gehörte zu den britischen Sozialisten und unterhielt selbst zahlreiche eigene Handwerksbetriebe, in denen er vorzuleben suchte, wie Arbeit angemessen, mit gutem Ergebnis, ökologisch verträglich organisiert sein müsste. Eine harmonische Beziehung zwischen Menschen und Natur war, wie man seinen floralen Mustern entnehmen kann, für ihn darüber hinaus von großer Bedeutung. Seine Ideen einer besseren, gerechteren und schöneren Gesellschaft blieben nie reine Theorie. Neben seinen Handwerksbetrieben gründete er 1877 eine Gesellschaft zum Erhalt historischer Bauwerke, aus der später indirekt der National Trust Englands hervorging.
Markowitsch zeigt beide Seiten von William Morris: Der Hintergrund seines Werks sind Originaltapetenbahnen nach einem Entwurf von Morris aus dem Jahr 1876. Im Vordergrund aber liest man – in der ebenfalls von Morris entwickelten Schrifttype Morris Ornaments – ein Zitat aus dem bereits oben erwähnten Werk: „[...] so long as the system of competition in the production and exchange of the means of life goes on, the degradation of the arts will go on; and if that system is to last forever, then art is doomed, and will surely die; that is to say, civilization will die.“24 [Solange Produktion und Austausch unserer Lebensgrundlagen vom Prinzip des Wettbewerbs bestimmt sind, wird die Entwertung der Kunst unaufhaltsam weitergehen. Und wenn dieses System tatsächlich von Dauer sein sollte, ist die Kunst dem Tod geweiht – und mit ihr letztlich auch unsere Zivilisation. [Üs R.M.]
Markowitsch hält seine Gestaltung eng an der Person von Morris. Einzig die Farbe der Buchstaben verweist auf den Bezug zum Grundgesetz, denn es ist das Rot, mit dem in der Urschrift des Grundgesetzes 1949 der Innentitel und die Artikel mit der zugehörigen Zahl gedruckt wurden. Durch diese Reminiszenz holt Markowitsch Morris’ Idee einer Gesellschaft, die in Gleichheit und gemeinschaftlichen Werten verwurzelt ist und Kunst als transformative Kraft für gesellschaftlichen Wandel begreift, in die Gegenwart.