Annette Kelm (Artikel 9 GG)
Audiodatei des Textes zu Annette Kelm
Vereine und Gesellschaften, 2024
Vereinsflagge, Kartoffeln, Pilze, Zwiebeln, 2024
Zwei Fotografien, jeweils 92 × 72 cm
Courtesy the artist and Esther Schipper, Berlin/Paris/Seoul
Im Jahr 2022 verzeichnete das Vereinsregister von Deutschland insgesamt 615.759 eingetragene Vereine – Gemeinschaften von Menschen also, die sich für die Förderung eines gemeinsamen Hobbys oder eines gesellschaftlichen oder privaten Anliegens zusammenschließen. Zu den ältesten Vereinen Deutschlands zählen Sportvereine wie der Fußballclub BFC Germania, der 1888 in Berlin gegründet wurde, als älteste Turnvereine gelten der 1814 in Mecklenburg-Vorpommern gegründete TV Friedland und die Hamburger-Turnerschaft von 1816. Sportvereine sind unter den Vereinen am stärksten vertreten (das bevölkerungsreichste Bundesland, Nordrhein-Westfalen, hat zugleich die höchste Anzahl an Sportvereinen) und sie haben die meisten Mitglieder. Spitzenreiter ist der FC Bayern München, der im Februar 2025 mehr als 400.000 Mitglieder verzeichnen konnte, ihm folgt Borussia Dortmund mit einer Mitgliederzahl von 218.493 Mitgliedern (Stand November 2024). Neben den Turn- und Sportvereinen gibt es Vereine, die sich der Ausübung und/oder Förderung von Kunst und Kultur oder der Gartenarbeit widmen, es gibt Vereine für Briefmarkensammler und Schachspieler, Vereine, die sich dem Naturschutz verschrieben haben, politische Vereine, eine große Anzahl von Sozialvereinen und berufsständische Vereine, deren Vorläufer schon in den Gilden und Zünften des Mittelalters zu finden sind.
Egal für welchen Zweck Vereine gegründet werden und wie überregional organisiert oder lokal begrenzt das damit verbundene Ziel sein mag – ihre Vielfalt ist nicht nur Ausdruck gelebter Demokratie in Deutschland, sondern sie sind ein Kernstück der Zivilgesellschaft als jener gesellschaftlichen Sphäre, in der Bürgerinnen und Bürger definieren, welche Themen und Anliegen ihnen wichtig sind und für die sie sich deshalb ehrenamtlich und gemeinsam mit anderen engagieren.
Artikel 9 GG ist dafür die Grundlage – und betrifft weit mehr als Vereine, sondern auch Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände, die durch das im Artikel garantierte Grundrecht der Koalitionsfreiheit erst ermöglicht werden. Sie stehen für Interessenvertretungen, die unmittelbaren Einfluss auf die politischen Entscheidungen suchen. Gewerkschaften und Vereine sind die größte etablierte Struktur gesellschaftlicher Teilhabe und Mitbestimmung und ein wichtiger Motor für gesellschaftliche Veränderung. Oft genug vertreten sie ihre in gemeinsamer Anstrengung formulierten Änderungswünsche gegenüber politischen Instanzen, sie sorgen für die Information der Öffentlichkeit und tragen so zur öffentlichen Meinungsbildung bei.
Annette Kelm geht den Auftrag zu Artikel 9 GG aus zwei Perspektiven an und verwebt dabei ihre Familiengeschichte mit ihrem künstlerischen Ansatz, der jenseits der dokumentarisch erzählerischen Fotografie jene „Räume zwischen Geschichte und Kunst“ sucht, „die sie meist abseits der vereinbarten Anschauungen unserer Gesellschaft führt.“20
Die erste Fotografie zeigt ein aufgeschlagenes Miniatur-Grundgesetz neben dem dazugehörigen Schuber vor einer leicht schief hängenden Jalousie. Aufgeschlagen ist der Verfassungsartikel zum Vereinsrecht, dessen erster Satz lautet: „Alle Deutschen haben das Recht, Vereine und Gesellschaften zu bilden.“ Auf der linken Seite ist der vorherige Artikel zum Versammlungsrecht noch teilweise zu lesen Das Grundgesetz als Miniaturausgabe selbst zum Bildthema zu machen, kann als Anknüpfung zu einer ihrer großen Werkserie „Die Bücher“ verstanden werden. Diese widmete Kelm all jenen Büchern, die von den Nationalsozialisten verbannt und in großen, öffentlich zelebrierten Bücherverbrennungen zerstört wurden. Mehr als 30.000 Bücher wurden am 10. Mai 1933 allein auf dem Berliner Opernplatz (heute Bebelplatz), unter lauthals vorgetragenen Schmähreden verbrannt. Es handelte sich um Sachbücher, Romane, Gedichtbände, selbst Groschenromane und Kinderbücher, die als „schädliches und unerwünschtes Schrifttum“ galten, weil sie „linkes“ Gedankengut verbreiteten: Schriften von Autorinnen und Autoren, die liberale, kommunistische, feministische, pazifistische oder ganz generell Ideen verbreiteten, die der nationalsozialistischen Ideologie als „zersetzend“, „unmoralisch“ oder „schädlich“ galten. Viele der Autorinnen und Autoren wurden verfolgt, einige flüchteten, zahlreiche wurde umgebracht. Kelm holte diesen Feldzug gegen Literatur und Literaten wieder ins Bewusstsein – im Detail, mit Namen und Titeln, denn erstaunlicherweise existiert bislang kein Archiv der verbrannten Bücher. Dabei bildete sie die oft aufwendig gestalteten Buchcover in sachlicher, fast kühler Weise in immer gleicher Größe ab. Das Nebeneinander expressionistischer, konstruktivistischer, romantischer und vieler anderer künstlerischer Gestaltungssprachen und die Gegenwärtigkeit von Titeln und Autorennamen entwickeln eine besondere Präsenz, die der von Porträts nicht unähnlich ist. Nun rückt Annette Kelm das Grundgesetz in den Mittelpunkt, wählt aber eine ganz andere Bildsprache.
Für die zweite Fotografie verwendete Kelm ein Fundstück aus dem Familienarchiv. Die abgebildete lilafarbene Flagge trägt in der Mitte ein kreuzförmiges Wappen, worin ein stilisierter Eichenzweig abgebildet ist. Es handelt sich um die Flagge des Zuffenhausener Jünglingsvereins, in dem Kelms Großvater Mitglied war. Jünglingsvereine waren ab Mitte des 19. Jahrhunderts in Deutschland sehr verbreitet, sie gelten als Vorläufer des Christlichen Vereins Junger Menschen (CVJM, englisch YMCA), der heute weltweit größten Jugendorganisation. Die Jünglingsvereine waren Teil der breiteren Bewegung der christlichen Jugendvereine, die sich in diesem Fall der religiös fundierten charakterlichen Bildung junger Männer widmete und ein Gegenangebot zur damals erstarkenden Kneipenkultur junger Arbeiter darstellen wollte. Der Wertekanon der Jünglingsvereine zielte auf grundlegende moralische Vorstellungen von Ehrlichkeit, Verantwortung und Nächstenliebe und suchte die jungen Mitglieder durch eine Vielzahl von gemeinsamen Unternehmungen an sich zu binden. Der Gemeinschaftsgedanke und das Engagement für Benachteiligte gehörten ebenso zum Vereinsleben wie Ausflüge und Sportveranstaltungen. Im Nationalsozialismus wurden die Jünglingsvereine verboten.
Kelm reflektiert den Artikel damit auf verschiedenen Ebenen und verbindet dabei das Allgemeine – die Möglichkeit der Vielfalt, die der Artikel einräumt – mit dem Konkreten, der Erzählung über einen Verein, der lange vor Inkrafttreten des Grundgesetzes zu Deutschlands Kulturleben gehörte und der Vorläufer eines heute international verankerten Netzwerkes von jungen Menschen ist.