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Małgorzata Mirga-Tas (Artikel 6 GG)

Audiodatei des Textes zu Małgorzata Mirga-Tas

Zilli Schmidt. Every Day Is #ROMADAY, 2025 
Stoff und Acrylfarbe auf gespannter Leinwand, 
170×120×4,5 cm

„Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich“, lässt Leo Tolstoi seinen Jahrhundertroman „Anna Karenina“ beginnen. Das große russische Epos über Aufbruch und Scheitern einer selbstbewussten Frau, das übrigens zuerst als Fortsetzungsroman in einer russischen Zeitschrift abgedruckt wurde, steht stellvertretend für eine literarische Gattung, die sich bis heute großer Beliebtheit erfreut und längst über die großen Vorbilder Tolstoi, Thomas Mann und Jane Austen hinausgewachsen und in der Gegenwart angekommen ist. Familien sind in allen Ländern der Welt das Zentrum des Lebens. Der Wechsel der Generationen und die Konflikte, die durch veränderte Wertvorstellungen und Ansichten zur Welt entstehen, spiegeln die Gesellschaft wie in einem Mikrokosmos. Auch die Auflösung althergebrachter Familienmodelle und die Ausbildung neuer Formen des Zusammenlebens erzählen viel über die Gesellschaft. Die Familie stand deshalb schon immer besonders im Fokus der Politik.

Die Weimarer Verfassung aus dem Jahr 1919 hatte in Artikel 119 noch festgelegt: „Die Ehe steht als Grundlage des Familienlebens und der Erhaltung und Vermehrung der Nation unter dem besonderen Schutz der Verfassung.“ Die Nation, auf deren Erhalt hier Bezug genommen wird, fällt im Grundgesetz von 1949 weg. Anstelle dessen verständigte sich der Parlamentarische Rat darauf, auch (alleinerziehende) Mütter und uneheliche Kinder unter Schutz zu stellen. Im damaligen Deutschland war das ausgesprochen fortschrittlich und trug wohl vor allem der Situation der zahlreichen Kriegswitwen Rechnung. Im Laufe der nachfolgenden Jahrzehnte häuften sich etwa unter der Überschrift „Ehe für alle“ und durch Hinterfragung des Begriffes „Kindeswohl“ die Auseinandersetzungen um Artikel 6.

Mirga-Tas ist eine polnische Romni aus der Bergitka-Community (eine ethnische Untergruppe der Roma, die hauptsächlich in den polnischen Vorkarpaten zu Hause ist), ihr Lebensmittelpunkt ist ein Roma-Dorf am Fuße der Hohen Tatra. Die jahrhundertealte Kultur, die vielfältigen Bräuche und Traditionen, auch die zahlreichen Handwerkskünste der Sinti und Roma sind das Thema ihrer riesigen Stoffgemälde, in denen sie Textilien anstelle von Farbe nutzt. Die farbintensiv leuchtenden Objekte verkörpern so neben der gedanklichen auch eine physische Ebene, denn die verarbeiteten Stoffe tragen die Lebensspuren der einstigen Trägerinnen in sich. Viel ist in Mirga-Tas’ Werken von Familie die Rede, sie ist für die Gemeinschaften der Sinti und Roma der Mittel- und Bezugspunkt des Lebens. Roma-Familien zählen nicht nur Eltern und Kinder, sondern zudem Großeltern, Nichten, Neffen und Kindeskinder zum engsten Kreis, der verbindlich im Umgang, unverbrüchlich in der Loyalität und nach strengen, jahrhundertealten Regeln des Zusammenlebens organisiert ist. Mirga-Tas weiß von diesen Familienbanden zu erzählen.

Für die 59. Biennale in Venedig zum Beispiel hatte sie im Jahr 2022 zwölf raumfüllende Bildtafeln geschaffen, die den polnischen Pavillon nach dem Vorbild eines Renaissance-Palastes im italienischen Ferrara ausstatteten. Zwölf Tafeln, die dem Jahreszyklus gewidmet waren, geschmückt mit mythologischen Motiven und Gestalten. Darüber und darunter Szenen aus dem alltäglichen Leben. Während sich im italienischen Palazzo Schifanoia die erstarkende, stolze städtische Bürgergesellschaft selbst ein Denkmal gesetzt hatte, zeigte Mirga-Tas im polnischen Biennale-Pavillon nun analog das Leben der Roma-Gemeinschaften. Nur, dass es hier nicht um Handel, Kriege, Hochzeiten, um den Besitz edler Pferde oder teurer Kleidung, sondern um Feldarbeit, gemeinsames Kochen und Essen, um Nähen und Stricken, um das Hüten von Kindern und Haustieren, um das gemeinsame Erzählen und Singen ging – meist stehen Frauen im Mittelpunkt des Geschehens. Ähnlich wie in Tuli Mekondjos Werk (Artikel 1 GG) geht es dabei um die gemeinschaftsprägende Präsenz von Frauen – in diesem Fall „Mirga-Tas’ Großmutter und Mutter, die den Zweiten Weltkrieg beziehungsweise das kommunistische Regime in Polen überlebten und deren Stellung in der Familie über traditionelle Geschlechterrollen hinausging.“17 

Für ihren Beitrag zu Artikel 6 GG entschied sich Małgorzata Mirga-Tas, Zilli Schmidt ein leuchtendes Stoffgemälde zu widmen, das die Protagonistin in einem Sessel sitzend fast lebensgroß zeigt. Auf den ersten Blick ist diese Einzelperson schwer mit der Vorstellung einer Familie zusammenzubringen. Zilli Schmidt wurde 1924 als Sintezza (Angehörige der Sinti) im thüringischen Dorf Hinternah in eine Familie von Schaustellern geboren. Ihre Eltern Berta und Anton Reichmann hatten neben Zilli vier weitere Kinder. Die Familie lebte auf Wanderschaft, musizierte in Städten und Dörfern, wo sie mit dem Wohnwagen gastierte, und betrieb ein Wanderkino. Der Vater war Handwerker und half aus, wo man ihn brauchte, die Kinder gingen dort zur Schule, wo die Familie gerade Vorstellungen gab. Familie Reichmann war katholisch und gehörte zu den Lalleri, einer Teilminderheit der Roma, die vor allem in Gebieten des heutigen Tschechiens beheimatet waren. Die Familie sprach miteinander Romanes – eine aus sieben Einzelsprachen bestehende Sprache der Sinti und Roma.

Mit den Nürnberger Gesetzen von 1935 galten für Zillis Familie die sogenannten Rassegesetze. Wie Juden auch, wurden Sinti und Roma als „rassisch minderwertig“ und als Bedrohung für die „arische Rasse“ angesehen – eine abstruse Konstruktion, um Angehörige dieser Gruppen systematisch zu verfolgen und zu ermorden. Da Sinti und Roma in der nationalsozialistischen Propaganda nicht nur als „minderwertig“, sondern vor allem als kriminell stigmatisiert wurden, glaubte Zillis Vater seine Familie sicher, schließlich hatte niemand Vorstrafen zu verzeichnen. „Der Hitler bringt doch nur die Verbrecher weg“18, blieb für vier weitere Jahre ein Mantra der Hoffnung. Zilli ging inzwischen in Ingolstadt auf eine Klosterschule, bekam dort allerdings immer deutlicher zu spüren, dass das alltägliche Leben schwierig wurde, weil sie und ihre Familie als Angehörige der Sinti und Roma in den Geschäften nicht mehr bedient, von Stellplätzen vertrieben und auf offener Straße beschimpft wurden. 1939 beschließt Zillis Vater die Flucht aus Deutschland. Sie führt die Eltern mit zwei Geschwistern nach Eger (heute Ungarn) und Karlsbad (heute Tschechien), später nach Straßburg (Frankreich). Ein Teil der weiteren Familie ist zu diesem Zeitpunkt bereits im KZ Buchenwald interniert. Zillis Eltern und Geschwister können bis 1942 auf freiem Fuß bleiben, werden dann aber von der Gestapo geschnappt und erst in verschiedene Gefängnisse verbracht, schließlich im „Zigeunerlager“, wie Abschnitt B II e im Konzentrationslager Auschwitz genannt wurde, interniert. Nach Zilli, ihrem Bruder und ihren Eltern kommen nach und nach auch die anderen, mittlerweile erwachsenen Kinder der Familie mit ihren Kindern und Eheleuten an. Zilli ist inzwischen selbst Mutter. Ihre Tochter Ursula Josefine, Spitzname Gretel, war 1940 geboren und von der ganzen Familie aufgezogen worden. Am 2. August 1944 werden bis auf Zilli alle Familienmitglieder vergast: „Mein Kind, meine Eltern, meine Schwester mit sechs Kindern. Das siebte, ein Baby, hatte man ihr aus Eger nachgeschickt, wie ein Paket. Der Junge starb direkt nach der Ankunft, er war zehn Monate alt.“ Darüber hinaus werden ihre Tante, ihre Cousins und ihr Bruder, der kurz zuvor noch in der Wehrmacht gedient hatte, in Auschwitz umgebracht. Zilli überlebt, weil sie an diesem Tag zu einem Arbeitseinsatz in das Außenlager Ravensbrück geschickt wird, schließlich gelingt ihr sogar die Flucht.

Nach dem Ende des Kriegs lässt Zilli sich in Mannheim nieder, heiratet erneut, bekommt eine zweite Tochter. „Dann, als wir uns kennenlernten, hatten wir unser Leben. Unser Jetzt. Da haben wir nicht viel über das Davor geredet.“ Zu reden beginnt Zilli im hohen Alter. Im Februar 1988 sagt sie vor dem Landgericht Siegen als Zeugin gegen einen früheren SS-Offizier in Auschwitz aus. Ihre Erinnerungen stellt sie unter den Titel „Gott hat mit mir etwas vorgehabt“: „Ich hatte Gott bei mir, schon immer. Er hat mit mir etwas vorgehabt. Jemand muss sagen, was sie mit den Sinti gemacht haben, damals, die Nazis. Das wissen viele heute immer noch nicht. Aber unsere Menschen sollten nicht vergessen werden.“ Zilli Schmidt starb 2022 in Mannheim.

Małgorzata Mirga-Tas’ Arbeit ist mehr als eine Erinnerung an Zilli Schmidt, denn das Schicksal ihrer Familie steht stellvertretend für den Porajmos [das Verschlingen] – wie der Völkermord an den europäischen Sinti und Roma in der Zeit des Nationalsozialismus auf Romanes genannt wird. Das Stoffgemälde basiert auf einer Fotografie aus dem Jahr 2019. In der Hand hält Zilli ein Schild, auf dem „Everyday is Roma Day“ zu lesen ist. Das Bündnis gleichen Namens wurde im Jahr 2015 auf Initiative des Vereins RomaTrial und der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas gegründet, um ein sichtbares Zeichen gegen Antiziganismus zu setzen.

Heute leben schätzungsweise 80.000 bis 140.000 Sinti und Roma in Deutschland. Hiervon besitzen etwa 70.000 die deutsche Staatsbürgerschaft.