Monica Bonvicini (Artikel 3 GG)
Audiodatei des Textes zu Monica Bonvicini
EGAL IST NICHT GLEICH, 2025
Spiegel, Sprühfarbe,
200×150×17 cm
Artikel 3 GG war schon bei seiner Einführung einer der umstrittensten Artikel des Grundgesetzes. Ursprünglich hätte dieses Grundrecht lediglich aus dem einen Satz bestehen sollen: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“
Elisabeth Selbert und Friederike Nadig – zwei von insgesamt nur vier weiblichen Mitgliedern des Parlamentarischen Rates – setzten gegen den Widerstand der meisten anderen in einer klugen Aktion, die als „Proteststurm der Öffentlichkeit“10 in der Nachkriegsgeschichte erinnert wird, einen zweiten Absatz durch. Er schreibt die Gleichberechtigung von Männern und Frauen fest. Bundestagspräsidentin a. D. Bärbel Bas schrieb anlässlich des 75. Jubiläums des Grundgesetzes über diese hart erkämpfte Hinzufügung: „Es ist ein schlichter Satz, als Feststellung formuliert. Damit war Artikel 3 seiner Zeit voraus. Die Feststellung in Artikel 3 wurde erst nach und nach Realität. Die deutsche Gesellschaft musste in diesen Satz hineinwachsen (...) Noch Anfang der 1950er Jahre konnten Beamtinnen entlassen werden, wenn sie heirateten und ihre wirtschaftliche Versorgung dauernd gesichert erschien (...), ähnliche Klauseln gab es auch in Tarif- und Arbeitsverträgen. Erst seit 1962 darf eine Frau ohne Zustimmung ihres Mannes ein Konto eröffnen. 1973 streikten migrantische Arbeiterinnen in Neuss, um gleichen Lohn für gleiche Arbeit für Männer und Frauen durchzusetzen.“11
Damit wird ein wichtiges Prinzip des Grundgesetzes deutlich: Es ist ein Manifest unserer Werte und Grundsätze, eine Formulierung der Ziele, die unsere Gesellschaft erreichen will, die sie oft genug aber noch nicht erreicht hat. Das schmälert nicht die Bedeutung dieser Verfassungstexte, im Gegenteil, sie sind ein wichtiger, vielleicht der wichtigste Bezugspunkt für gesellschaftliche Prozesse und Entwicklungen. So kam der zweite Satz von Absatz 3 des Artikels erst 1994 auf Initiative der Bundesregierung hinzu. Der verfassungsrechtliche Schutz gegen Diskriminierung von Menschen mit körperlicher oder geistiger Benachteiligung oder Behinderung war von vielen Menschenrechtlerinnen und Menschenrechtlern und Sozialverbänden gefordert worden. Die Ergänzung markierte einen wichtigen Meilenstein auf dem Weg zu einer inklusiven Gesellschaft.
Monica Bonvicini konzentriert sich in ihrer Arbeit auf keine spezifische Gruppe. Vielmehr entwickelt sie ein skulpturales und performatives Objekt, das die Grundsätze des Artikels aufgreift und in konzentrierter Minimalität reflektiert. Die Arbeit besteht aus einem Spiegel, der an eine Wand gelehnt ist. Der obere Teil ist von Löchern durchbrochen – eine Reminiszenz an den Gesetzestext, den die Unabhängige Bundesbeauftragte für Antidiskriminierung Ferda Ataman im Jahr 2024 als „so löchrig wie ein Schweizer Käse“12 beschrieben hatte, da zum Beispiel alte und queere Menschen nicht explizit erwähnt und damit auch nicht gesetzlich vor Diskriminierung geschützt würden.13
Bonvicinis Spiegel bleibt trotz der Aussparungen in seiner Funktion unberührt und bietet den Betrachtenden einen Blick auf sich selbst und den umgebenden Raum. Es ist eine Einladung – nicht nur dazu, sich vor dem Spiegel zu bewegen, zu agieren oder zu posieren, sondern auch eine Einladung zur Reflexion, denn Bonvicini konfrontiert die Betrachtenden mit einem Spruch, der auch an jeder Hauswand Berlins zu finden sein könnte. „Egal ist nicht gleich“ steht da in gesprayten Buchstaben zu lesen. Bonvicini nutzt Graffitis immer wieder für ihre Arbeiten und berührt damit auch in diesem Fall eine lebensweltliche Ebene, die keine Erweiterung des Artikels je bewirken könnte. Ihr geht es um Haltung. Gleichheit, wie sie in Artikel 3 GG formuliert wird, ist nicht nur eine Frage der Gesetze, sondern der konkreten lebensweltlichen Praxis. Sie ist – ähnlich wie Bärbel Bas es für die Gleichberechtigung von Männern und Frauen formuliert hatte, eher Ziel als Tatsache, eher Aufforderung als Zustand und fordert ganz sicher mehr Tun als Denken und vor allem: Mehr WIR als Ich, Du oder Ihr. Das geläufige „Mir doch egal, wie er oder sie aussieht / spricht / denkt / glaubt / liebt“, mag Offenheit signalisieren, lässt aber die politische Dimension einer längst nicht erreichten Realität außen vor und ignoriert vor allem die Bedeutung des eigenen Tuns und die Verantwortung der/des Einzelnen.
Bonvicini schafft mit ihrem Werk eine unmittelbare Begegnungs- und Handlungserfahrung im Hier und Jetzt. Indem der Spiegel unvoreingenommen das Spiegelbild jeder Person „gleich“, also unabhängig von Identität oder Gruppenzugehörigkeit zeigt, stellen sich vor allem Fragen nach der eigenen Gleichheit oder eben Andersartigkeit gegenüber anderen Personen im Raum, gegenüber einer Mehrheit oder gegenüber Minderheiten, gegenüber Autoritäten oder Machtlosen, gegenüber Älteren, Jüngeren oder ganz grundsätzlich gegenüber allen anderen Menschen, die immer anders als man selbst sind. Nicht alle Unterschiede sind politisch oder gesellschaftlich gleichermaßen bedeutsam – aber das Nachdenken darüber wird durch Bonvicinis Werk angeregt.Die Verwendung von Spiegeln als skulpturalem Medium ist im Werk Monica Bonvicinis fest verankert: „Das Zahnrad, welches das Ineinandergreifen des materiell Realen der Ökonomie (Gegenstand der Widerspiegelung) und der gelebten Ideologie (Verweigerung der Reflektion) der Subjekte, die unter diesem leben, regelt, dreht Monica Bonvicini seit vielen Jahren um ein paar Umdrehungen weiter. Sie stellt sich immer wieder den Moment vor, wo die Ideologie das Subjekt kurz allein lässt (ohne dass schon die Reflexion eingesetzt hätte) und man mit dem Kopf zuerst ungebremst gegen die Verhältnisse rennt, die plötzlich nur noch materiell und daher zunächst skulptural sind – und sich eine Beule holt. Sie holt damit die Widerspiegelung gewissermaßen zurück in die visuelle Realität des Spiegels und in den Zusammenhang von Täuschung und Erkenntnis, die mit diesem verbunden ist, Widerspiegelung bzw. Spiegelmetapher und Spiegelbild fallen so wieder in eins.“14
Sie überschreitet damit nicht nur die Grenzen traditioneller Kunstformen, sondern schafft durch den performativen Charakter der Arbeit ein Erlebnis, das unmittelbar auf die Betrachtenden zurückwirkt und den Fokus nicht auf die Kunst, sondern auf die Person selbst lenkt. Auf diese Weise wird das Kunstwerk zum Ausgangspunkt eines Dialoges und Denkprozesses, der nicht nur Perspektiven, sondern auch Realitäten verändern kann.