Adi Hoesle (Artikel 2 GG)
Audiodatei des Textes zu Adi Hoesle
Dancing Neurons.
Die Paradoxie des Artikel 2 GG, 2024
Leuchtkasten, 110×110×8 cm
Als die Mitglieder des Parlamentarischen Rates 1949 das rechtliche Fundament der Bundesrepublik als demokratischem Staat legten, war die Sicherung von Freiheit und Unversehrtheit seiner Bürgerinnen und Bürger in Erinnerung an die Willkürherrschaft des Nationalsozialismus eines der größten Anliegen. Noch bevor die einzelnen Freiheitsrechte definiert werden, garantiert Artikel 2 des Grundgesetzes deshalb auf einer ganz allgemeinen Ebene die „freie Entfaltung der Persönlichkeit“, die nur beschränkt werden dürfe, soweit sie die Rechte anderer einschränke oder gegen die verfassungsmäßige Ordnung verstoße.
Was aber ist eine Persönlichkeit? Der Duden beschreibt sie als „die Gesamtheit der persönlichen (charakteristischen, individuellen) Eigenschaften eines Menschen“. Der Begriff umfasst also das, was eine Person in ihrer Art zu denken, zu fühlen und zu handeln von anderen Menschen unterscheidet. Adi Hoesle beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit Fragen menschlichen Bewusstseins, individueller Persönlichkeit und deren Darstellbarkeit in der Kunst. Dafür arbeitet er gemeinsam mit Neurowissenschaftlerinnen und Neurowissenschaftlern an bildgebenden Verfahren für eine künstlerisch interpretierende Darstellung von Gehirnstrukturen und Gehirnwellen. Für sein Werk zu Artikel 2 GG kreierte er das Bild eines neuronalen Musters, das so oder ähnlich in jedem Gehirn zu finden sein könnte: Ein Geflecht von Nervenzellen, das bei oberflächlicher Betrachtung einen ähnlichen Eindruck erzeugt wie Darstellungen des Weltalls, weil sich hinter jeder Ebene eine weitere zu eröffnen scheint. Auf neurowissenschaftlicher Ebene sind diese Muster die Strukturen, in denen das menschliche Gehirn arbeitet, um Sinneseindrücke zu verarbeiten und um Bewegungen, Gedanken und Emotionen zu steuern – also all das, was letztlich die individuelle Persönlichkeit ausmacht. Hoesle präsentiert uns allerdings keine tatsächliche Aufnahme aus einem Gehirn, sondern generierte im Austausch mit einem Programm generativer künstlicher Intelligenz ein künstliches neuronales Muster. Insofern trägt Hoesles Werk seinen eigenen Widerspruch in sich: Wir schauen nicht auf ein individuelles neuronales Muster, sondern, ganz im Gegenteil, auf ein prototypisches. Er deutet damit einen Diskurs an, der im Zuge der Verbreitung künstlicher Intelligenz die Frage nach genuiner Schöpfungskraft des Menschen thematisiert. In diesem Fall hat er mithilfe der künstlichen Intelligenz ein Bild jenes „Maschinenraum des Geistes“ erzeugt, in dem die individuelle, persönlichkeitsprägende Schöpfungskraft des Menschen, seine Motivation und seine Fähigkeit die Welt zu verändern, verortet werden.
In einem zweiten Schritt thematisierte Hoesle das Konfliktpotenzial, das in der garantierten freien Persönlichkeitsentfaltung steckt:
„Das Recht, deine Arme zu schwingen, endet dort, wo die Nase des Nächsten beginnt.“ Dieser Satz von Oliver Wendell Holmes jr. weist, genauso wie Artikel 2, in zwei Richtungen: Er legt mit der Rücksicht auf andere den Grundstein zu Gesetz und Moral, zeigt aber zugleich, dass man innerhalb dieser Grenzen frei ist. Das bedeutet, jede/r kann tun und lassen was sie, was er will. Artikel 2 gewährleistet eine allgemeine Handlungsfreiheit. Jede/r hat das Recht, Dinge zu tun, die er/sie tun will oder sie zu lassen, ohne begründen zu müssen, warum er/sie das möchte. Allerdings gilt, wenn das Individuum Teil einer Gruppe, einer Gesellschaft oder eines Staates ist, wird seine Handlungsfreiheit durch die Gesetzgebung und durch die ethisch-moralischen Rahmenbedingungen der jeweiligen Gesellschaft eingeschränkt. Durch sie ist geregelt, wie sich das Individuum zu verhalten hat, wenn es bei seiner freien Willensausübung der Nase des anderen zu nahekommt. Im Umkehrschluss gilt aber auch, dass der Staat sowohl gegenüber der allgemeinen Handlungsfreiheit als auch gegenüber dem Recht auf Leben und körperlich-seelische Unversehrtheit, sowie gegenüber dem Recht des Bürgers oder der Bürgerin auf Freiheit in der Bringschuld ist und als Schutzschild fungiert. (A.H.)
Auf der Suche nach einer Möglichkeit, die Einzelinteressen von Persönlichkeiten nicht nur ohne Konflikte, sondern im Sinne einer funktionierenden Gesellschaft zu vereinbaren, griff Hoesle auf das Modell der Schwarmintelligenz zurück. Schwärme sind Gemeinschaften von Individuen, die durch kollektives Handeln bessere Chancen für das eigene (Über-)Leben erfahren. Schwarmintelligenz wurde bei Tieren festgestellt. Insekten, Vögel und Fische etwa bewegen sich in großen Gruppen, weil sie in der Interaktion komplexer handeln und effektiver reagieren können als allein. Hoesle erläuterte:
Wie Schwärme gebildet und zusammengehalten werden, ergaben Computersimulationen von Craig Reynolds, der diese 1986 zum ersten Mal modelliert hat. Schwarmverhalten basiert demnach auf drei Regeln, die die einzelnen Individuen beachten: Bewege dich in Richtung des Mittelpunkts derer, die du in deinem Umfeld siehst (Kohäsion); bewege dich weg, sobald dir jemand zu nahe kommt (Separation); bewege dich in etwa dieselbe Richtung wie deine Nachbarn (Alignment). Als Folge dieser Regeln für den Einzelnen entsteht eine Gesamtstruktur, nämlich der selbstorganisierte Schwarm (...) Kollektive Intelligenz, auch Gruppenintelligenz und Schwarmintelligenz genannt, ist die Hypothese zu einem emergenten Phänomen, bei dem Gruppen von Individuen durch Zusammenarbeit intelligente Entscheidungen treffen können. Der Begriff wird seit langer Zeit in vielen verschiedenen Bedeutungen verwendet, erlangte aber größere Aufmerksamkeit und Popularität erst durch die Kommunikationsmöglichkeiten im Internet. (A.H.)
Auf menschliche Gemeinschaften übertragen, ist die Idee des Schwarms nicht unproblematisch, zumindest aber zweischneidig. Der Blick in die Geschichte zeigt, dass Schwarmverhalten bei Menschen im Extremfall zu Entgleisungen führen kann, weil die Freiheit des Einzelnen sich dem großen Ganzen unterordnen muss oder weil die Masse sich gegen jene wendet, die sich nicht den Regeln unterwerfen oder ohnehin als nicht dazugehörig betrachtet werden. Stalinismus und Faschismus erzählen vom Ausschalten der individuellen Persönlichkeitsrechte zugunsten einer gleichgeschalteten Masse.
Hoesle zielt mit seinem Exkurs zum Schwarm, der in der Ausstellung in einer Videosimulation zu sehen ist, aber nicht nur auf diese gesellschaftliche Dimension, sondern fand in den komplexen Hirnstrukturen selbst eine Entsprechung für das Verhältnis von Individuum und Masse:
Das Gehirn ist ein gigantisches Labyrinth von Milliarden Nervenzellen, die untereinander elektrische Signale austauschen. Es gliedert sich in verschiedene Netzwerke. Manche Netzwerke nehmen Sinnesreize auf, andere initiieren und steuern, was der Mensch tut. Wieder andere sind für Erinnerungen oder Gefühle zuständig, für Denken, Planen, Prognostizieren. Diese einzelnen Netzwerke stimmen sich miteinander ab, unterwerfen sich Kontrollinstanzen, generieren Handlungen. In gewisser Weise ist deshalb auch ein Gehirn das Zusammenspiel eines Superorganismus aus für sich genommen „unintelligenten“ Einzelteilen, nämlich den Neuronen. Ein Neuron ist annähernd nichts weiter als ein Integrator mit Reaktionsschwelle, genauer, einer sigmoiden Reaktionskurve. Erst das komplexe und spezifischen Regeln unterliegende Zusammenwirken von Milliarden von Neuronen ergibt, was wir unter Intelligenz (Hive Mind) verstehen. Das Gehirn selbst, der Maschinenraum des Geistes (Das Gehirn ist der Maschinenraum der Kunst und das Atelier des 3. Jahrtausends!), ist das Spiegelbild der Hive Mind Theory und zugleich eine Entsprechung zu Artikel 2 GG. (A.H.)
Die Regeln für dieses Zusammenleben, die in Artikel 2 GG enthaltene Frage, wo die Freiheit des Einzelnen aufhört, weil sie die Freiheit des anderen verletzt, verortet Hoesle in einer ganz anderen Kategorie:
Durch Vernunft und Moral ist der Mensch in der Lage abzuschätzen, welche Folgen sein Handeln hat. Damit ist der Mensch verantwortlich für das, was er tut. Handlungsfreiheit und Moral bedingen sich also gegenseitig und sind für das Gelingen des Zusammenlebens von Individuen eine conditio sine qua non. Entspringt also Artikel 2 GG dem Maschinenraum des Geistes? (A.H.)