Die Arbeit des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union in der 20. Wahlperiode
I. Mitglieder und Vorsitz
Der Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (nachfolgend: EU-Ausschuss) ist ein verfassungsrechtlich garantierter, ständiger Pflichtausschuss und der zentrale Ort der europapolitischen Mitwirkung des Deutschen Bundestages. Der EU-Ausschuss ist Fach-, Querschnitts- und Integrationsausschuss zugleich. Mit 41 ordentlichen und 41 stellvertretenden Mitgliedern zählte er zu den großen Ausschüssen des Bundestages der 20. Wahlperiode. Zusätzlich gehörten dem EU-Ausschuss 19 zur Mitwirkung berufene Mitglieder des Europäischen Parlamentes (EP) ohne Stimmrecht an. Vorsitzender des Ausschusses war in der 20. Wahlperiode der Abgeordnete Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN), stellvertretender Vorsitzender der Abgeordnete Markus Töns (SPD).
II. Sitzungen des Ausschusses und Themen im Überblick
Der EU-Ausschuss kam zu insgesamt 85 Sitzungen zusammen, darunter 3 öffentliche Anhörungen. Er befasste sich mit 1493 überwiesenen Vorlagen und im Rahmen der Selbstbefassung mit zahlreichen weiteren Themen. Die Arbeit in der 20. Wahlperiode war in besonderer Art und Weise durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine und die vielfältigen Auswirkungen auf die europäische Sicherheits- und Verteidigungsarchitektur geprägt. Breiten Raum nahmen auch die Beratungen zum EU-Erweiterungsprozess mit den Staaten des westlichen Balkans sowie mit den neuen Kandidatenstaaten ein. Der EU-Ausschuss legte seinen Fokus zudem auf die Entwicklungen im Bereich Rechtstaatlichkeit und die Mitwirkung des Bundestages in EU-Angelegenheiten. Schließlich setzte er sich mit institutionellen Aspekten der EU auseinander. Der EU-Ausschuss nahm seine Rolle als Integrationsausschuss etwa bei der Federführung beim Gesetzentwurf zur Zustimmung zum novellierten Wahlrecht für die Wahlen zum Europäischen Parlament wahr. Der später durch das Plenum angenommene Gesetzesentwurf hielt auch der verfassungsrechtlichen Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht stand.
III. Zu ausgewählten Themen im Einzelnen:
1. Angriffskrieg gegen die Ukraine und Sicherheits- und Verteidigungspolitik
Seit dem 24. Februar 2022 ist die Europapolitik durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine und die damit verbundenen, weitreichenden Auswirkungen auf die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik geprägt. Diese thematische Dominanz erfasste auch die Arbeit des EU-Ausschusses, der sich fortlaufend über die Situation in der Ukraine durch die Bundesregierung sowie im Gespräch mit der ukrainischen Botschaft durch Botschafter Melnyk und Botschafter Makeiev unterrichten ließ. Im Kontext mit dem Krieg in der Ukraine ist auch das Gesetzgebungsverfahren zur Zustimmung im Rat zur Erfassung von Sanktionsverstößen als Kriminalitätsbereich gem. Art. 83 Abs. 1 AEUV zu sehen, in dem der EU-Ausschuss federführend war und seine Kernaufgabe als Integrationsausschuss erfüllte. Darüber hinaus beschäftige sich der EU-Ausschuss in unterschiedlichen Formaten auch mit Fragen zum Wiederaufbau der Ukraine und zur Annäherung an die EU im Rahmen des Beitrittsprozesses. Seine Unterstützung bekräftige der EU-Ausschuss nicht zuletzt auch durch Reisen des Vorsitzenden und verschiedener Ausschussmitglieder in die Ukraine. Zudem initiierte der Ausschuss im Juni 2024 eine parlamentarische Begleitung der Ukraine Recovery Conference, die in einer gemeinsamen Ausschusssitzung mit einer parlamentarische Delegation der Verkhovna Rada gipfelte. Einhergehend befasste sich der EU-Ausschuss mit den Auswirkungen auf die europäische Sicherheits- und Verteidigungsarchitektur, wofür u.a. Bundeskanzler Scholz, Außenministerin Baerbock, Verteidigungsministerin Lambrecht und Verteidigungsminister Pistorius zum Austausch zur Verfügung standen. Im Kontext dieser Neuordnung befasste sich der EU-Ausschuss auch mit dem zwischenzeitlich erfolgten NATO-Beitritt von Finnland und Schweden und der Neuordnung der Beziehung zum Vereinigten Königreich. Die Eckpfeiler der neuen, auch die Veränderungen im transatlantischen Verhältnis abbildenden europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik wurden mit dem erstmals besetzten Kommissar für Verteidigung und Weltraum Kubilius erörtert. Im Mittelpunkt der Diskussion standen das kurz zuvor veröffentlichte Weißbuch zur europäischen Verteidigung und das Programm ReArm Europe.
2. EU-Integration
Der Erweiterungsprozess ist seit jeher zentraler Beratungsgegenstand des EU-Ausschusses und erlebte in der 20. Wahlperiode eine neue Dynamik. Der Integrationsprozess des Westbalkans gewann durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine Auftrieb. Insbesondere zur Lage in Bosnien und Herzegowina und der dortigen, auf dem Dayton-Abkommen fußenden politischen Architektur tauschte sich der EU-Ausschuss wiederholt mit dem Hohen Repräsentanten für Bosnien und Herzegowina aus. Zur Gesamtsituation auf dem Westbalkan ließ er sich – jeweils mit unterschiedlichem Fokus – mehrfach durch den Sondergesandter der Bundesregierung für die Länder des westlichen Balkans Sarrazin unterrichten. Gegenstand hierbei waren auch die Fortschritte des Berlin Prozess. Der Regierungsgipfel anlässlich des zehnjährigen Bestehens des Prozesses im Oktober 2024 wurde durch den EU-Ausschuss als Gastgeber der Parlamentarischen Dimension, der sie 2023 initiiert hatte, begleitet. Abermals stand die Stärkung der Parlamente im EU-Integrationsprozess im Mittelpunkt. Erstmals wurde die Parlamentarische Dimension in den Schlussfolgerungen des Regierungsgipfels festgehalten und dort als Forum der parlamentarischen Kooperation begrüßt. Einigkeit bestand zwischen allen Delegationen, den Austausch zu verstetigen. Ein Fokus lag auf den Entwicklungen in der Republik Serbien, die zu Beginn der Wahlperiode mit der Ministerin für europäische Integration Prof. Dr. Miščević und Botschafterin Dr. Janković erörtert wurden. Der Ausschuss verfolgte die Parlamentswahlen vom Dezember 2023, erörterte den Bericht von ODIHR und lud dazu auch zahlreiche Vertreter der serbischen Zivilgesellschaft zum Gespräch ein. Sein nachhaltiges Interesse für die Entwicklungen in Serbien unterstrich der EU-Ausschuss durch seine Delegationsreise nach Belgrad im November 2024.
Gegenstand der Beratungen im Kontext Erweiterung waren zudem die Beitrittsprozesse mit der Ukraine, der Republik Moldau und Georgien. Der EU-Ausschuss bereitete jeweils die Herstellung des nach dem EUZBBG notwendigen Einvernehmens zwischen Bundestag und Bundesregierung zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen vor. Ebenso befasste sich der Ausschuss mit der vom Krieg in der Ukraine betroffenen Republik Moldau, wo Präsidentschaftswahlen und eine Verfassungsänderung anstanden. Im Mai 2024 war Staatspräsidentin Sandu im Ausschuss zu Gast, kurz darauf besuchte eine Delegation die Republik Moldau. Aufmerksam verfolgte der Ausschuss auch die Entwicklungen in Georgien, insbesondere nach den Wahlen vom Oktober 2024 und dem Erlass des Gesetzes über ausländische Einflussnahme. Auch die Türkei war wiederholt Gegenstand der Beratungen und Ziel einer Delegationsreise im Herbst 2024.
3. Rechtsstaatlichkeit
Der EU-Ausschuss beriet regelmäßig über die jährlichen Rechtsstaatlichkeitsberichten der Kommission und die Rechtsstaatlichkeitsdialoge im Rat, in die 2024 erstmals auch Kandidatenstaaten einbezogen wurden. Intensiv befasste der EU-Ausschuss mit der Entwicklung der Rechtstaatlichkeit in Ungarn und dem seit September 2018 anhängigen Artikel-7-Verfahren. Gegenständlich waren etwa die Maßnahmen zum Schutz des Haushalts der Union vor Verstößen gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit in Ungarn. Hier war der EU-Ausschuss federführend bei der Ausarbeitung der Stellungnahme gem. Art. 23 Abs. 3 Grundgesetz tätig und nahm seine Rolle als Fachausschuss auf dem Gebiet der Rechtsstaatlichkeit war. Zudem debattierte er über die Freigabe der REPowerEU-Finanzmittel. Die Entwicklung der Rechtsstaatlichkeit war auch zentrales Thema der Delegationsreise des EU-Ausschuss im Oktober 2024 nach Ungarn anlässlich des ungarischen Ratsvorsitzes.
4. Wirtschafts- und Finanzpolitik
Im Bereich der europäischen Wirtschafts- und Finanzpolitik knüpfte der EU-Ausschuss mit der Auseinandersetzung mit dem Wiederaufbaufonds „Next Generation EU“ (NGEU) an seine Arbeit in der 19. Wahlperiode an, wobei nunmehr dessen Implementierung im Vordergrund stand. Mit Blick hierauf beriet der EU-Ausschuss wiederholt zur Aufbau- und Resilienzfazilität (ARF) und den Aufbau- und Resilienzplänen der Mitgliedstaaten. Gleichfalls beriet der EU-Ausschuss zum European Green Deal, dem Fit-for-55-Paket und der vorgeschlagenen Novelle der EU-Fiskalregeln. Insbesondere zu letzterer war der Bundesfinanzminister Lindner zu Gast im Ausschuss. Zudem debattierte der EU-Ausschuss den Sonderbericht des Europäischen Rechnungshof (ERH) zur Umsetzung des Corona-Wiederaufbaufonds sowie den Jahresbericht zum EU-Haushalt 2022 mit Klaus-Heiner Lehne, Mitglied des ERH. Im April 2024 nahm der EU-Ausschuss den sog. Letta-Bericht zur Zukunft des europäischen Binnenmarktes inhaltlich auf und erörterte diesen mit seinem Urheber, Prof. Dr. Enrico Letta, Präsident des Jacques-Delors-Instituts in Paris. Gleichfalls ließ der EU-Ausschuss sich im September 2024 durch die Bundesregierung zum sog. Draghi-Bericht zur Zukunft der europäischen Wettbewerbsfähigkeit unterrichten.
IV. Parlamentarische Kooperationen, COSAC und Austausch mit der EU-Ebene
Auch in der 20. Wahlperiode pflegte der EU-Ausschuss die traditionell engen bilateralen Kontakte zum Europaausschuss der französischen Assemblée nationale, u.a. durch gemeinsame Ausschusssitzungen. Zudem rückten 2024 die trilateralen Beziehungen mit Frankreich und Polen wieder in den Fokus. Im März 2024 luden der polnische Senat und Sejm die EU-Ausschüsse Frankreichs und Deutschlands im Format „Weimarer Dreieck“ nach Warschau ein, im November 2024 war der EU-Ausschuss des Bundestages Gastgeber dieses Formates. Vor dem Hintergrund des Kriegs in der Ukraine kam erstmals auch ein trilaterales Format zwischen den EU-Ausschüssen der Ukraine, Polens und Deutschlands zustande. Mit dem EU-Ausschuss der ukrainischen Verkhovna Rada fand anlässlich der regierungsseitigen Ukraine Recovery Conference im Juni 2024 zudem eine gemeinsame Ausschusssitzung statt. Die ukrainische Delegation wurde von Vize-Parlamentspräsident Korniyenko hochrangig geleitet. Die Abgeordneten nahmen unmittelbar im Anschluss an der Rede von Staatspräsident Selenskyj im Plenum teil. Schließlich initiierte der EU-Ausschuss des Deutschen Bundestages 2023 die Parlamentarische Dimension zum regierungsseitigen Berlin Prozess, um der Bedeutung der Parlamente für die EU-Integration der Westbalkanstaaten sichtbar zu machen und durch den Austausch von Best Practices zu einer engeren Zusammenarbeit in der Region beizutragen. Im Oktober 2024 fand die Konferenz anlässlich des zehnjährigen Bestehens des Berlin Prozesses statt. Der Austausch soll verstetigt und künftig erstmal auf dem Westbalkan stattfinden.
Die halbjährlichen Treffen der Konferenz der Europaausschüsse der Parlamente der Mitgliedstaaten und des EP (COSAC), an denen auch Delegationen aus Kandidatenstaaten und weitere Beobachter teilnahmen, boten jeweils Gelegenheit für einen vertieften Diskurs zu europapolitischen Themen zwischen den Parlamenten. Vorsitz und Mitglieder des EU-Ausschusses nahmen an den Konferenzen in Paris und Prag (2022), Stockholm und Madrid (2023) sowie in Brüssel und Budapest (2024) sowie in Warschau (2025) teil. Im Zuge der Konferenzen der Vorsitzenden in Budapest und Warschau etablierte sich ein Side-Event der Ostseeanrainer, das sich einer umfassenden Partizipation erfreute, und die Erörterung gemeinsamer Interessen und die Förderung gemeinsamer Werte zum Gegenstand hat.
Über die gesamte Wahlperiode hinweg pflegte der EU-Ausschuss intensive Kontakte zu Repräsentanten der europäischen Institutionen. Mit dem Europäischen Parlament tauschte er sich u. a. zur Reform des europäischen Wahlrechts aus. Regelmäßig traf sich der Ausschuss in Sitzungen oder informellen Berichterstattergesprächen mit Mitgliedern der Kommission, darunter die Exekutiv-Vizepräsidenten Timmermans und Šefčovič, Vizepräsident Schinas und die Kommissaren Hahn, Johansson, Breton, Ferreira und Kubilius. Zudem waren die Europäischen Generalstaatsanwältin Kövesi und der Exekutivdirektor von Frontex Leijtens zu Gast. Im Dezember 2023 fanden Gespräche mit der Kommission und EP in Brüssel statt. Der Ausschuss nutzte für den Austausch zunehmend digitale Formate, die den zeitnahen Gedankenaustausch erleichtern, persönliche Gespräche vor Ort aber nicht in allen Fällen adäquat zu ersetzen vermögen.